Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Chancellor

Titel: Der Chancellor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
erscheinen mag, so haben wir uns doch an das Hungern allmälig gewöhnt. Die Berichte von Schiffbrüchigen haben nicht selten Thatsachen, welche mit den hier beobachteten übereinstimmen, angeführt. Wenn ich jene las, war ich geneigt, sie für Uebertreibungen anzusehen. Darin täuschte ich mich, und ich sehe jetzt wohl ein, daß ein Mangel an Nahrung weit länger ertragen werden kann, als ich je geglaubt hätte. Ueberdies hat der Kapitän unserem halben Pfunde Schiffszwieback jetzt einige Tropfen Branntwein hinzugefügt, und erhält dieses Régime unsere Kräfte mehr, als man annehmen sollte. O, wenn wir dieser Rationen für zwei Monate, ach, nur für einen, sicher wären! Doch unser Vorrath geht zu Ende, und Jeder kann den Augenblick voraussehen, in dem auch diese magere Nahrung uns völlig fehlen muß.
    Um jeden Preis müssen wir also aus dem Meere eine Vermehrung unserer Nahrungsmittel zu erlangen suchen, was jetzt immerhin ziemlich schwierig ist. Indessen fertigen der Hochbootsmann und der Zimmermannaus aufgelösten Seilen neue Angelschnuren an und versehen diese mit aus den Planken gezogenen, krumm gebogenen Nägeln.
    Der Hochbootsmann scheint mit dem Ergebnisse der Arbeit ganz zufrieden gestellt zu sein.
    »Das sind zwar keine tadellosen Angelhaken, diese Nägel, sagt er zu mir, indeß ein Fisch könnte an ihnen ebenso gut hängen bleiben, wenn wir nur einen Köder daran hätten. Nun haben wir als solchen aber blos Schiffszwieback, der daran nicht lange halten kann. Wenn es erst gelungen ist, einen zu fangen, würde ich die Angeln mit seinem Fleische als Lockspeise versehen. Aber den ersten Fisch zu erlangen, darin liegt die große Schwierigkeit!«
    Der Hochbootsmann hat recht, und voraussichtlich ist unser Angeln erfolglos. Indeß, man probirt es auf gut Glück, und die Schnüre werden ausgelegt. Wie zu erwarten stand, »beißt« indessen kein Fisch an«, und offenbar ist das Meer hier auch nicht gerade fischreich.
    Während des 28. und 29. December setzen wir unsere vergeblichen Versuche fort. Die Zweimarkstücken, welche an die Nägel gesteckt werden, erweichen sich natürlich im Wasser, fallen ab und bedürfen einer wiederholten Erneuerung. Damit verschwenden wir aber einen Theil der Substanz, welche unsere einzige Nahrung darstellt, und sind doch schon an dem Punkte angelangt, die letzten Brocken zu zählen.
    Der Hochbootsmann, der die gewöhnlichen Mittel erschöpft hat, kommt auf den Einfall, ein Stückchen Stoffgewebe an die Nägel zu befestigen. Miß Herbey opfert deshalb eine Ecke des rothen Shawltuches, das sie trägt, und vielleicht lockt der rothe,unter dem Wasser lebhaft leuchtende Stoff einen gefräßigen Meeresbewohner an.
    Im Laufe des 30. December schreitet man zu diesem neuen Versuche. Mehrere Stunden lang läßt man die Schnüre dem Flosse in beträchtlicher Tiefe nachschwimmen, doch wenn sie heraufgezogen werden, zeigt sich das rothe Wollenstückchen immer vollkommen unversehrt.
    Dem Hochbootsmann sinkt aller Muth. Hier versiegt uns noch eine Quelle, auf die wir unsere Hoffnung setzten. Was würde man nicht für den ersten Fisch bieten, mit dem man dann andere zu fangen im Stande wäre!
    »Ein einziges Mittel gäbe es noch, unsere Angeln mit einem Köder zu versehen! sagt der Bootsmann halblaut zu mir.
    – Und welches? fragte ich ihn.
    – Das werden Sie später erfahren!« antwortet mir der Seemann und wirft mir einen unverständlichen Blick zu.
    Was sollen diese Worte eines Mannes bedeuten, den ich immer als sehr zurückhaltend gekannt habe? Die ganze Nacht hindurch kommen sie mir nicht aus dem Sinn.

XXXVIII.
    Vom 1. bis 5. Januar. –
    Es sind nun drei Monate verflossen, daß wir Charleston auf dem Chancellor verlassen, und zwanzig Tage, die wir schon auf dem Flosse, von der Gnade der Windeund Strömungen abhängig, verbracht haben! Sind wir weiter nach Westen, nach der amerikanischen Küste gekommen, oder hat uns das Unwetter noch weiter von jedem Lande verschlagen? Es ist jetzt sogar unmöglich geworden, hierüber klar zu werden. Bei dem letzten, uns so verderblichen Sturme sind auch die Instrumente des Kapitäns trotz aller Vorsichtsmaßregeln beschädigt worden, und Robert Kurtis besitzt jetzt weder einen Compaß, um die Richtung zu bestimmen, in der wir fahren, noch einen Sextanten, um eine Höhenmessung vorzunehmen. Sind wir nun einer Küste nahe oder noch Hunderte von Meilen von einer solchen entfernt?
    Man kann es nicht wissen, doch ist, da alle Umstände gegen uns gewesen

Weitere Kostenlose Bücher