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Der Chancellor

Titel: Der Chancellor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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sind, vielmehr zu befürchten, daß wir noch weiter hinaus getrieben wurden.
    Diese absolute Unkenntniß unserer Lage hat etwas Beängstigendes; doch, so wie die Hoffnung nie des Menschen Herz verläßt, so lieben wir es trotz aller Gegengründe zu glauben, daß eine Küste in der Nähe sei. Jeder beobachtet den Horizont und sucht in dessen glatt verlaufender Linie ein Land zu entdecken. Wie häufig täuschen uns Passagiere die Augen! Ein Nebel, eine Wolke, eine Bewegung des Wassers! Kein Land erscheint, kein Schiff verirrt sich in den unendlichen Kreis um uns, in dem Himmel und Meer verschmelzen, und dessen Mitte das Floß unverändert einnimmt.
    Am 1. Januar haben wir unseren letzten Zwieback verzehrt oder richtiger, unseren letzten Brocken Zwieback! Am 1. Januar! Welche Erinnerungen weckt dieser Tag, und wie traurig erscheint uns dagegen der heutige! Das neue Jahr, der erste Tag desselben, wie brachte man sich einander seine Wünschedar, schmeichelte man sich mit den Hoffnungen, die das Herz erfüllten – uns ziemt sich nichts von alle Dem! Die Worte: »Ich wünsche Ihnen ein glückliches Neujahr!«, die man doch nur mit freudigem Angesichte aussprechen kann, wem von uns kämen sie jetzt über die Lippen? Wer vermöchte auch nur einen Tag für sich selbst noch zu hoffen?
    Da nähert sich mir der Hochbootsmann, sieht mich ganz eigenthümlich an und sagt:
    »Mr. Kazallon, ich wünsche Ihnen einen glück ...
    – Ein glückliches neues Jahr?
    – Nein! Nur einen glücklichen Tag, und das will schon viel sagen, denn wir haben nichts mehr zu essen auf dem Flosse!«
    Nichts mehr! Wir wußten es ja, und doch, als die Stunde der Vertheilung kam, traf es uns, wie ein neuer Schlag. Man mochte an diesen absoluten Mangel an Allem nicht glauben!
    Gegen Abend fühle ich ein heftiges Zusammenziehen des Magens; dann folgt ihm ein schmerzhaftes Gähnen, das sich zwei Stunden nachher ein wenig mindert.
    Am nächsten Tage, dem 3. Januar, bin ich sehr erstaunt, nicht mehr zu leiden. Ich fühle in mir eine furchtbare Leere, doch ist das ebenso ein Gefühl geistiger wie körperlicher Zerschlagenheit. Mein schwerer Kopf schwankt auf den Schultern, und es wird mir schwindelig, so als ob ich in einen Abgrund blickte.
    Die Erscheinungen gleichen sich aber nicht bei Allen von uns, und einige meiner Gefährten leiden schon ganz entsetzlich, unter Anderen Daoulas, der Zimmermann, und der Bootsmann, die von Natur starke Esser sind. Die Hungersqualen pressen ihnenunwillkürlich Schmerzensschreie aus, und sie schnüren sich mit einem Stricke zusammen. Wir sind aber jetzt erst am zweiten Tage!
    O, jenes halbe Pfund Zwieback, jene mageren Rationen, die uns noch vor wenig Tagen so unzureichend erschienen, wie vergrößert sie unser Verlangen, wie enorm erscheinen sie uns jetzt, da wir gar nichts mehr haben! Wenn man uns jetzt diese Stückchen Zwieback noch zutheilte, nur die Hälfte, ja, nur den vierten Theil davon, wir würden mehrere Tage damit ausreichen! Bissen für Bissen würden sie nur verzehrt werden!
    Wenn in einer belagerten Stadt Mangel herrscht, kann man in dem Kehricht, in den Flüssen, in einem Winkel einen abgenagten Knochen finden, eine weggeworfene Wurzel, die den Hunger eine Zeit lang wegtäuscht! Auf diesen Brettern aber, welche die Wogen unzählige Male überflutheten, in deren Fugen man schon gierig nachgesucht, deren Ecken und Winkel, in die der Wind einige Brosamen hätte treiben können, man schon wieder und wieder ausgescharrt hat, was könnte man hier wohl zu finden hoffen?
    Wie lang werden uns die Nächte – noch länger als die Tage! Vergeblich erhofft man vom Schlafe eine vorübergehende Milderung dieser Leiden. Wenn sich unsere bleiernen Augenlider ja einmal schließen, so verfallen wir vielmehr einer fieberhaften Betäubung, die uns mit Alpdrücken quält.
    Und doch, die letzte Nacht unterlag ich der Erschöpfung und habe einige Stunden ruhen können.
    Am anderen Tage erwache ich um sechs Uhr Morgens durch lautes Geschrei. Ich springe auf und sehe im Vordertheile den Neger Jynxtrop, die Matrosen Owen, Flaypol, Wilson, Burke und Sandonwie zum Angriffe zusammengetreten. Diese Schurken haben sich der Werkzeuge des Zimmermanns, der Aexte, des Beiles, der Meißel u.s.w. bemächtigt, und bedrohen damit den Kapitän, den Bootsmann und Daoulas. Ich geselle mich schleunigst zu Robert Kurtis und den Seinen. Falsten folgt mir unmittelbar. Wir haben als Waffen zwar nur unsere Messer, sind aber nicht minder entschlossen, uns zu

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