Der Chefarzt
sie so voller Leben sah. Sie gingen spazieren. Auf einem schmalen Weg drehte sie sich um und sagte leise: »Ich hab es mir anders überlegt. Ich bin mit der Operation einverstanden.«
Am nächsten Tag fuhren sie nach Hause. Er war voller Zuversicht und Zukunftspläne, sie schweigsam. Sie fuhren einen holprigen Gebirgsweg hinunter, er mußte sich darauf konzentrieren. Der Gedanke an ihren plötzlichen Sinneswandel beschäftigte ihn lange, bevor er ihr die Frage danach stellte.
»Es war hochmütig von mir«, sagte sie. »Mir ist später klar geworden, was du alles durchmachen mußtest, während ich …«
Der holprige Gebirgsweg mündete in eine breite Asphaltstraße. Er wechselte den Gang und streifte sie mit einem kurzen Blick.
Sie fuhren nach Norden. Der Himmel wurde grau und während der Abenddämmerung erreichten sie das schlechte Wetter. Ohne Vorwarnung hörte der unwahrscheinlich schöne Herbst auf; der erste Schnee fiel.
Karen von Kerckhoff starb an einer Überdosis Schlaftabletten in der Nacht vor ihrer Operation. Sie war gerade siebenundzwanzig geworden. Es geschah in der ersten Dezemberwoche, man verzeichnete die größten Schneefälle seit fünfundzwanzig Jahren. Es wurde nicht richtig kalt, der Schnee fiel weiter, als würde es nie mehr aufhören zu schneien.
ZWEITES BUCH Malvina
Die Rose
1
Die Zeitung lag keine drei Meter von Josef Glücklich entfernt, dennoch war sie für ihn unerreichbar.
Aus seinem Versteck in Rosemaries Zimmer verfolgte er, wie sie aus der Einkaufstasche der Schwester Leopoldine Stein fiel. Die Mieze merkte es nicht. Sie holte ihre Post und verschwand im Hauseingang.
Die Zeitung blieb liegen, flatterte im Wind, und er sah die Überschrift: »Juwelenraub im Krankenhaus im Wert von 600.000 DM.« Darunter war, er hätte es beschwören können, die verstorbene Gräfin Kerckhoff abgebildet. In diesem Augenblick trug ein starker Wind die Zeitung zu der Kastanienallee, wo sie aufgeblättert an einem Strauch hängenblieb. »Verflucht«, sagte Glücklich hilflos, »jetzt ist der Wisch weg.«
Die Einfältigkeit, die er zur Schau trug, war List. In Wirklichkeit waren seine Gedanken flink. Obwohl ihm die Sache mit dem Bild nicht mehr so sicher erschien, fing er gleich an zu kombinieren. Sollte die Alte am Ende doch erleichtert worden sein? Vielleicht der Tscharli? Aber – er wurde stutzig – das bedeutete, die Bullen hatten den Schmuck nicht sichergestellt, wie Rosemarie behauptete. Wer log hier?
Er verfolgte die Zeitung sehnsüchtig, die in der Ferne wie ein Segel flatterte. Nichts wäre einfacher, als hinzulaufen. Bei diesem Gedanken meldete seine angeborene Vorsicht Bedenken an – länger als ein Jahr stand er auf der bundesweiten Fahndungsliste. Schlimm genug, daß sich ein Mannsbild wie er in einem Haus voller Weiber verstecken mußte. Schon wenn er zur Toilette am anderen Ende des Korridors schlich, lauerte Gefahr auf ihn. Angeekelt dachte er daran. Eines Tages würde er sich eine eigene Toilette zulegen und sie nach Herzenslust allein benützen. Ob die Mieze schon ihre Zeitung vermißte?
Dieser Gedanke gab Josef Glücklich einen Ruck. Was konnte ihm schon viel passieren. Er griff nach seinem Hut, zog die Krempe tief in die Stirn, ihn kannte hier kein Hund. Erstaunlich leise lief er an einer Unzahl fremder Türen vorbei, zum erstenmal am hellichten Tage. Es war kurz nach fünf, ein Unwetter braute sich zusammen. Als er die Allee erreichte, rasselte ein starker Wind in den Kastanienkronen, der Park war menschenleer. Um so besser, sagte sich Glücklich, dem spontane Entscheidungen nicht behagten. Ein neuer Windstoß riß ihm den Hut vom Kopf und rauschte an ihm vorbei. Staub wirbelte um die Kliniken, wie von einem heftigen Schlag getroffen wickelte sich die Zeitung um den Strauch. Verwirrt, wem er zuerst nachjagen sollte, bückte sich Glücklich nach der Zeitung, als eine Stimme sagte: »Was suchen Sie hier?«
Der Wind hatte für ein paar Sekunden nachgelassen, und die Stille ließ diese Frage bedrohlich erscheinen. Glücklich fuhr herum und sah einen großen, hageren Mann in dunkelblauer Regenhaut, der ihn mit hellen, abwesenden Augen betrachtete. ›Dem ist das Unwetter lieber als die Menschen‹, ging es Glücklich durch den Kopf. Nach seinem Äußeren hielt er ihn für einen Patienten.
Der Mann – es war Professor Thimm – fügte milder hinzu: »Gehört der Hund da Ihnen? Hunde im Krankenhaus …«
»Ich bin ein Hundehasser«, war Glücklichs Antwort, was
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