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Der Chefarzt

Titel: Der Chefarzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Argirov Valentin
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er vor sich hatte. Lothar Hessel war der stellvertretende Vorsitzende der Regierungspartei und ein einflußreicher, gefürchteter Politiker. Einer jener Männer, die Minister aufstellen.
    »Setzen Sie sich«, sagte Bertram. »Wie heißen Sie mit Vornamen?«
    »Sissy.«
    »Die Eintragung in der Krankengeschichte lautet auf Renata-Elisabeth.«
    »Warum fragen Sie, wenn Sie es wissen?« Ihre Stimme hatte den angenehmen Klang der Stimme ihres Vaters und war doch feindselig. Ohne Übergang wechselte sie den Ton. »Für einen Arzt sehen Sie verdammt gut aus!«
    Sie war im Gegensatz zu ihrem korpulenten Vater blaß und dürr, eines dieser unscheinbaren Mädchen, die erst durch ihre Körperlänge auffallen. Das einzige, was an ihre Weiblichkeit erinnerte, war ihr Busen unter dem engen Rollkragenpulli. Ihre Hände zitterten auffällig.
    Er hatte ihre kalte feuchte Hand registriert. Mit dem Handschlag fing bei ihm ein oft komplizierter Weg zur Diagnosestellung an. Das Speichern von Daten, die er erst später in das Bild einer bestimmten Krankheit einordnete.
    Noch war er sich über sein Vorgehen nicht schlüssig. Er zögerte, dann versuchte er sie zu provozieren.
    »Was haben Sie in der Handtasche?«
    Sie zuckte. »Was geht Sie das an?«
    »Sie sollen mir den Inhalt Ihrer Tasche zeigen!«
    »Ich denke nicht daran. Wozu?«
    »Ich interessiere mich für bestimmte Dinge, die Ihnen nicht gehören.«
    »Meinen Sie die, die ich gestohlen habe?«
    »Ja.«
    »Das geht Sie einen Dreck an. Sie sind kein Polizist.«
    »Ich möchte Ihren Geschmack prüfen. Ich vermute, Sie sind wählerisch.«
    »Meinen Sie damit, daß ich nur bestimmte Dinge klaue? Daraus kann man sicher gewisse Schlüsse ziehen. Sie sind schlau. Aber ich muß Sie enttäuschen, ich bin kein Rabe …«
    Sie öffnete ihre Tasche und leerte sie auf seinen Schreibtisch aus. Sie sah ihn mit einem langen Blick aus ihren bräunlich-grünen Augen an, und er rückte in seinem Drehsessel und dachte verwirrt: ›Sie hat ausnehmend schöne Augen.‹
    »Woher haben Sie das?« Er zeigte auf ein zusammengerolltes, abgewetztes Zentimetermaß.
    »Aus dem Kaufhaus. Aus der Kitteltasche einer Verkäuferin.«
    »Was dachten Sie sich dabei?«
    »Ich hörte, wie sie zu ihrer Kollegin sagte: ›Wieder drei Janker an Amis verkauft.‹ Sie prahlte damit.«
    »Das hat Sie gereizt, ihr das Zentimetermaß zu stehlen?« Jetzt fragte er, um ihre Aufmerksamkeit abzulenken. Er hatte das Gefühl, daß er bei ihr die ganze Zeit etwas übersah. Sosehr er sich auch bemühte, er kam nicht darauf.
    »Ob es mich reizte? Ich nahm ihr das Zentimetermaß einfach aus der Tasche. Sie sah mich an und merkte es nicht. Ich schwitzte vor Aufregung. Es geschah vor ihren Augen …«
    Die Augen!
    Das war es, wonach er die ganze Zeit gesucht hatte. Sie hatte auffallend schöne Augen, braun-grün mit einer besonderen gelb-goldenen Verfärbung um die Pupille, die wie ein Ring wirkte. ›Es ist‹, dachte er aufgeregt, ›die Kupferfärbung.‹ Sie hatte den sogenannten Kayser-Fleischerschen Hornhautring in den Augen, der bei einer seltenen Erkrankung vorkommt, die man als Wilsonsche Erkrankung bezeichnet. Durch die Kupferablagerung in der Hornhaut bekamen die Augen diese selten schöne Farbe.
    Bertram dachte an den Vater, der jetzt im Wartezimmer saß. Warum hatte er nicht wieder geheiratet?
    Er sagte: »Machen Sie Ihren Bauch frei.«
    »Warum?«
    »Ich möchte Ihre Leber untersuchen.«
    »Meiner Leber fehlt nichts. Ich bin gesund.«
    »Ziehen Sie sich aus«, befahl er kurz. Wenn die Leber Veränderungen zeigte, müßte man annehmen, daß es sich um eine Wilsonsche Erkrankung handelte.
    Ausgezogen erschien sie noch magerer. Sie lag auf dem Untersuchungsbett, und er betrachtete ihren eingezogenen Bauch. Er legte seine linke Hand unter ihren Rippenbogen, und noch bevor sie tief zu atmen begann, spürte er die derben Höcker auf der Leberoberfläche von der Größe kleiner Kartoffeln – es war der Typ Leberzirrhose, der zu dieser Erkrankung gehört. Jetzt war die Erklärung einfach; das Zittern, die Müdigkeit, die Konzentrationsschwäche, die Veränderung ihrer Persönlichkeit. ›Man hat sich jahrelang durch Symptome irreführen lassen‹, dachte er mit dem Unbehagen eines Arztes, der mit den Unzulänglichkeiten anderer konfrontiert wird, ›während die Erkrankung weiter fortgeschritten ist. Das arme Mädchen muß die Hölle durchgemacht haben.‹
    Er selbst zweifelte an seiner Diagnose kaum, obwohl er diese Erkrankung

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