Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Chefarzt

Titel: Der Chefarzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Argirov Valentin
Vom Netzwerk:
nur selten gesehen hatte.
    Er beendete die Untersuchung und sagte höflich: »Sie dürfen sich wieder anziehen.«
    Er wusch sich die Hände lange und umständlich.
    Renata-Elisabeth Hessel wurde von Professor Bertram in die Klinik aufgenommen. Nach einer Leberspiegelung mit Leberpunktion und einer Reihe von weiteren Labortests fing er mit der Behandlung an. Er behandelte sie mit einem neuen Mittel, das noch wenig bekannt war und ihm von einer pharmazeutischen Firma zur Verfügung gestellt wurde. Die Besserung der Kranken war so verblüffend, daß Bertrams eigene Mitarbeiter darüber staunten.
    Eines Tages kam Lothar Hessel, nachdem sein Bonner Büro den Besuch avisiert hatte, nochmals in die Klinik. Er ließ seine Leibwächter im Begleitauto warten und kam allein.
    Es gab wenig Menschen, die von sich behaupten konnten, sie hätten Lothar Hessel in einem Augenblick der Schwäche gesehen.
    Seitdem kam er immer wieder zu Bertram, wenn es ihm seine Zeit erlaubte. Zwischen ihnen entstand eine Freundschaft.

3
    Im Laufe seines Lebens hatte sich Bertram – welche Veränderung – immer mehr in einen naturverbundenen Menschen verwandelt. Der strengen und etwas kargen Landschaft der Oberpfalz hatte er in seiner Jugend wenig Beachtung geschenkt, sie gehörte dazu.
    Das erste Mal zeigte er sich für die Natur empfänglich in der kurzen Zeit vor Karens Tod, die sie im Gebirge verbrachten. Seine damalige Stimmung hatte eine vollkommene Entsprechung in der Natur gefunden.
    Dagegen zeugten Malvinas Blumenarrangements für einen anerzogenen Geschmack. Für sie waren Blumen eine Frage der Ästhetik, nicht des Gefühls. Sie war eine typische Großstädterin, die die Erfüllung der Natur bestenfalls in gepflegten Rasenflächen und Hecken sah und sie als Requisit eines bestimmten Lebensstandards betrachtete. Als erster Oberarzt der Klinik war Bertram an Rufbereitschaften gebunden. Wenn er einmal nachts geholt wurde, ging er hinterher zu Fuß durch die schlafende Stadt bis zum Hügel hinauf, in dessen Nähe er wohnte. Gelegentlich erlebte er den Sonnenaufgang.
    Wenn es ihm seine Zeit erlaubte, machte er einen größeren Umweg und ging durch einen nahe gelegenen Wald. Er genoß das morgendliche Lichtspiel.
    Er verfiel dabei in eine grüblerische Stimmung, die vom Schmerz der eigenen Bedeutungslosigkeit nicht frei war und ihm zu neuen Gedanken verhalf. Bertram erlebte den Wechsel der Jahreszeiten, die Zeit des frischen Laubes und die Zeit der Beeren; er erlebte das goldene Herbstlaub, das von den Bäumen herabgefallen war, er ging auf einem Blätterteppich, der bei jedem Schritt rauschte. Wenn er zu den hohen Baumkronen hinaufschaute, bedeckte ein Gewirr von Sonnenflecken sein Gesicht.
    In solchen Augenblicken bewegte sich Bertram nicht mehr im gewohnten Kreis seiner Gedanken, er lauschte auf seine innere Stimme. Er dachte über die Frage nach, wie es nur möglich war, daß ein Mann wie er, bald in seinem vierzigsten Lebensjahr, immer noch vergebens nach dem Sinn des Lebens forschte. Voller Unruhe fragte er sich: ›Wie steht es in Wirklichkeit mit einem Mann um die Vierzig?‹
    Zu dieser Zeit griff Bertram noch einmal zu seinen Notizen:
    »Die Wandlungen im Leben eines Menschen gehen mir nicht aus dem Kopf. Warum sollte es nicht im menschlichen Leben, dem Muster der Natur folgend, ähnlich festumrissene Perioden geben wie die Jahreszeiten?
    Ich denke dabei nicht nur an das Äußere, hier ist von inhaltlichen Veränderungen die Rede, nach dem Sommer kommt der Herbst usw. Die Einfachheit der Vergleiche bürgt für ihre Glaubwürdigkeit.
    Wenn dem so ist, dann kommt die erste große Übergangsphase um die Dreißig, es ist die Zeit der Verwirrungen und Krisen, der Zweifel und der Selbstbefragung.
    Der nächste große Umschwung tritt etwa zehn Jahre später ein, um die Vierzig. Das Gefühl, daß die Zeit verstreicht, vermischt sich mit dem ersten, echten Bewußtsein des eigenen Todes und einer stillen Verzweiflung (wie zutreffend für meinen jetzigen Zustand).«
    Jahre später beendete Bertram mit einem Satz diesen Gedanken. Er schrieb: »Erst zu Beginn der Fünfzigerjahre wird der Mensch reif.«

4
    »Nennen Sie mich nicht Herr Professor«, sagte Bertram mit einem Lächeln. »Mein Name ist Bertram. Sie sind Kollege Rott?«
    Er sah, wie der junge Assistenzarzt verlegen wurde und mußte an seine eigene Jugend denken.
    Bertram weigerte sich, das ungeschriebene Gebot der Universitätshierarchie zu befolgen, nach dem er von seinen Untergebenen

Weitere Kostenlose Bücher