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Der Chefarzt

Titel: Der Chefarzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Argirov Valentin
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tituliert wurde, selbst jedoch ihren Titel auslassen durfte. Damit zog er sich das Mißfallen der anderen Oberärzte zu – auch hier hatte man, wie in seiner früheren Klinik, wenig Verständnis für Mißachtung dieser Tradition. Dabei konnte Bertram keine Jovialität nachgesagt werden. Zwischen seinen Mitarbeitern und ihm bestand eine Distanz, die durch seine Position und fachliche Überlegenheit erzeugt wurde. Die achtunddreißig Ärzte der Klinik waren, mit wenigen Ausnahmen, verheiratet, hatten meist mehrere Kinder.
    Das Verhältnis Bertrams zum Klinikchef blieb sachlich kühl. Die Fähigkeit, mit seinem Vorgesetzten gut auszukommen, besaß er nicht.
    Bei seinen Bemühungen, die Krebsambulanz weiter auszubauen, war Bertram auf eine Station mit ausschließlich krebskranken Frauen gestoßen, die zur Frauenklinik gehörte, aber außerhalb des Gebäudes in einem baufälligen Vorkriegshaus untergebracht war. Es war unter der Bezeichnung ›die Baracke‹ zum Inbegriff der Hölle auf Erden geworden.
    Diese Krebsstation hatte fünfundsechzig Betten, das Krankengut bestand aus Frauen, die früher an Krebs der weiblichen Organe behandelt und kurze Zeit später bereits mit Komplikationen wieder aufgenommen worden waren. Sie befanden sich in jenem Stadium, wo die Behandlung keine praktische Bedeutung mehr hatte, nur noch von akademischem Interesse war.
    Bertram erlebte die unzähligen, oft sinnlosen Operationen an diesen Frauen, er sah die Spätfolgen der Radiumeinlagen und Röntgenbestrahlungen, die verbrannten Gedärme, die blutenden Harnblasen. Er sah das Elend der Frauen. Die Stationsärzte wurden in einem festgelegten Rhythmus alle sechs Monate abgelöst; Bertram erlebte junge Ärzte, die in dieser Zeit ergrauten.
    In seiner konsiliarischen Tätigkeit in der Baracke bemühte sich Bertram, die letzten Tage dieser armen Geschöpfe zu erleichtern. Nach anfänglichen Widerständen gelang es ihm, die Abschaffung des Bestrahlens von Lebermetastasen durchzusetzen, eine Methode, die zu dieser Zeit hier systematisch ausprobiert wurde. Man versuchte, begrenzte Leberfelder mit niedrigen Strahlendosen auszustrahlen, was, wie Bertram nur zu gut wußte, von der Leber nicht toleriert wurde. Gleichzeitig zerfiel auch das funktionstüchtige Lebergewebe. Kurz nach Beginn der Bestrahlung starben die Frauen.

5
    Eines Tages unternahm Bertram einen Wochenendausflug mit einer auffallend hübschen tschechischen Ärztin, die seit einem Jahr in der Klinik ihre Facharztausbildung absolvierte.
    Sie fuhren einen steilen, serpentinenreichen Weg hinauf; er mußte sich auf die Straße konzentrieren.
    Er war in bester Stimmung und fühlte sich unbeschwert wie seit langem nicht mehr. Obwohl er sich vorgenommen hatte, das Thema zu vermeiden, glaubte er zu wissen, daß Menschen wie sie, zumindest in den ersten Jahren nach ihrer Flucht, ihre Heimat mit sich trugen. Manche kamen ihr Leben lang nicht davon los.
    Er bat sie: »Erzählen Sie mir mehr von sich. Was ich von Ihnen weiß, erinnert mich an einen Satz von Tolstoi: ›Im Hause Oblonskijs war alles aus den Fugen geraten.‹«
    »Wo steht das?«
    »In ›Anna Karenina‹.«
    »Für einen Medizinprofessor sind Sie erstaunlich belesen. Aber Sie haben auf seltsame Weise recht. Zu Hause bin ich in Prag. Zumindest war ich es … bis vor drei Jahren.«
    »Ich werde Sie nicht fragen, warum Sie geflüchtet sind. Auch nicht, ob es Ihnen im Westen gefällt.«
    »Zwei Fragen, die mir viel zu oft gestellt werden. Zum Teil aus purer Liebenswürdigkeit, vermute ich. Sie sind nicht einfach zu beantworten. Dennoch, wenn Sie es möchten.«
    »Nein. Lieber würde ich Ihnen eine belanglose Frage stellen. Reden wir zum Beispiel über die Landschaft. Das wird Sie auf andere Gedanken bringen.«
    Sie hieß Hana Komarova. Sie hatte dunkle Mandelaugen, die exotisch aussahen. Am Anfang hatte er sie für eine Asiatin gehalten. Dieser Irrtum unterlief vielen Menschen, die sie zum erstenmal sahen, klärte sie ihn später auf. Tatsächlich stammten ihre Eltern aus der Slowakei.
    Sie besaß einen etwas verhaltenen Charme, den er irrtümlicherweise für slawisches Temperament hielt. Darunter stellte er sich ein stilles Wasser vor, in dessen Tiefe es brodelte.
    Eines Abends hatte er, ohne ersichtlichen Grund, an sie gedacht. Er erinnerte sich an ihre Augen und an den Blick, mit dem sie ihm begegnete, hei einem Zufallstreffen im Flur, in einem Krankenzimmer oder bei einer Visite. Jedesmal hatte es eine Weile gedauert, bis er sich

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