Der Chinese
dunkle Begrüßungsworte und zog den Direktor beiseite, fern ab von den glotzenden Schülern.
»Ich möchte natürlich«, sagte er, »Ihrer Schule so wenig als möglich Unannehmlichkeiten bereiten, Herr Direktor. Doch werde ich es kaum verhindern können, wenigstens einen Ihrer Schüler zu verhören. Er ist, wie mir erzählt wurde, ein Neffe des Ermordeten. Äbi Ernst soll er heißen. Ich glaube, es wird sogar nötig sein, seinen Schrank zu durchsuchen…«
»Was Sie nicht sagen! Den Schrank erlesen, den Schrank eines meiner Schüler!… – Äbi!« rief er, und seine Stimme überschlug sich.
Wie alt mochte dieser Schüler sein? Sicher älter als seine Kameraden. Sechsundzwanzig? Achtundzwanzig? Ein alter Bekannter übrigens. Es war der Schüler mit der Nase, die so lang aus dem Gesicht ragte, daß sie wie verzeichnet aussah. Als der Bursche zwischen den beiden Männern stand, schnauzte ihn der Direktor an:
»Nur Unannehmlichkeiten hat man wegen dir. Jetzt will die Polizei deinen Schrank erlesen! Kannst du dir vorstellen, was das für eine Blamasche bedeutet für die Schule?«
War es eine Täuschung? Es schien dem Wachtmeister, als sei der Äbi Ernst erblaßt. Aber Studer gab seiner Stimme einen gewollt gemütlichen Ton, um zu sagen:
»Machen wir's wie beim Zahnarzt, Herr Direktor… je schneller desto besser.«
Er gab Ludwig einen Wink, auf seinen Stiefbruder aufzupassen, und ging dann voraus, neben dem Direktor, auf das Schulhaus zu.
Ein breiter Bau, im Stilgemisch des Kantonsarchitekten ausgeführt: teils Bauernhaus, teils Dorfschulhaus, teils Fabrikgebäude. Die Eingangstür verziert mit Kunstschlosserarbeit. Durch sie gelangte man in eine viereckige Halle, von der aus eine Treppe, zweimal gewinkelt, in das erste Stockwerk führte. Im Raum zwischen diesen beiden Winkeln stand ein moosbewachsenes Brünnlein, umgeben von einigen eingetopften Chrysanthemen, deren Stengel spannen – bis meterhoch waren. Bunt die Blumen, bronzefarben, purpur, goldgelb – und weiß. Als Studer die Treppe neben dem Direktor hinanstieg, wandte er sich um: das Bild, das er sah, sollte ihn lange verfolgen…
Ludwig Farny hatte seine breite, verarbeitete Rechte auf seines Stiefbruders Schulter gelegt. Besorgt blickten seine Augen, deren Blau so merkwürdig glänzte. Die schützende Gebärde des Knechtleins – viel kleiner war es als der Gartenbauschüler – wirkte so rührend, daß Studer einen Augenblick Gewissensbisse empfand. Aber schließlich: Pflicht ist Pflicht. Bei einer Untersuchung darf man auf Gefühle keine Rücksicht nehmen.
Wenn der Wachtmeister geglaubt hatte, unverzüglich zum Schrank des Äbi Ernst geführt zu werden, hatte er sich getäuscht. Selbst ein Mord kann den Direktor einer Schule nicht davon abhalten, die Herrlichkeiten seines Institutes zu zeigen. Außerdem litt Herr Sack-Amherd an Asthma. Darum führte er auch seinen Gast durch den ganzen ersten Stock, ließ ihn das Krankenzimmer bewundern (zwei Betten standen darin), die Bibliothek, das Museum, das Konferenzzimmer. Beim Betreten des Raumes fiel dem Herrn Direktor plötzlich ein, daß er es versäumt hatte, einem Lehrer die Aufsicht über die Schüler zu übertragen. Zuerst wollte er den Äbi fortschicken – aber der Wachtmeister protestierte gegen diesen Vorschlag. So wurde das Knechtlein abgesandt, und Studer mußte in dem Raume warten, in welchem sich ein mit grünem Filz bespannter Tisch langweilte, trotzdem ihn sechs hochlehnige Stühle umgaben.
»Geh, Bürschtli!« sagte Herr Sack-Amherd und beschrieb den zu nehmenden Weg. »Sag, ich sei bis elf Uhr beschäftigt. Bis dahin soll er die anderen ins Gewächshaus nehmen und einen Kurs über Topfpflanzen geben. Wottli heißt er. Das Schild mit dem Namen ist auf dem Briefkasten angebracht. Hast verstanden?«
Wieder wurde Ludwig rot, schielte zu seinem Stiefbruder hinüber, der die Stirn an eine Fensterscheibe gelehnt hatte und in den Garten hinausstarrte. Dann ging er. Um nicht mehr auf das Geschwätz des Direktors lauschen zu müssen, setzte sich Studer und blätterte in einem Buche, das auf dem Tische lag. Es war ein merkwürdiges Buch, ein Inder hatte es geschrieben, und es handelte von sonderbaren Versuchen: Der Verfasser hatte mit komplizierten Apparaten den Pulsschlag der Pflanzen festgestellt, der durch Einspritzungen von Chloroform verlangsamt und durch Einspritzungen mit Koffein beschleunigt werden konnte…
Endlich kam Ludwig Farny zurück, und nun stiegen die vier in das zweite
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