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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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jener Julinacht, da der ›Chinese‹ auf den Hinterbeinen seines Stuhles balancierte – und seine Lederpantoffeln hatten an seinen Füßen gehangen…!
    »Prost«, sagte Herr Hungerlott. Er stand zwischen den beiden Freunden und stieß zuerst mit dem Wachtmeister an, hernach mit dem Notar. Er trug einen Anzug aus dunkelgrauem Stoff, der Kittel war wie eine Litewka geschnitten und bis zum Hals geschlossen; vorne unter dem Kragen kam eine Krawatte zum Vorschein, smaragdgrün mit roten Punkten. Diese Krawatte war aber nur zu sehen, wenn Herr Hungerlott den Kopf beiseite wandte – sonst bedeckte sein Spitzbärtlein diese farbige Herrlichkeit.
    »Der Pauperismus – die Wissenschaft von der Armut!« begann der Hausvater der Armenanstalt Pfründisberg zu dozieren.
    »Wir wissen viel von der Armut. Wir wissen beispielsweise, daß es Menschen gibt, die nie auf einen grünen Zweig kommen – wenn ich diese Metapher gebrauchen darf. Es ist nicht ihre Schuld. Fast möchte ich sagen – auf die Gefahr hin für abergläubisch zu gelten –, daß es diesen Menschen bestimmt ist, daß es in ihren Sternen steht, daß sie arm bleiben müssen…«

Fortsetzung eines Vortrages
    Herr Hungerlott schritt auf und ab, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Lautlos waren seine Schritte, denn der Boden des Zimmers war mit einem dicken Teppich bedeckt. In der Nähe des Fensters stand ein Diplomatenschreibtisch, dessen Platte leer war – und Studer dachte an den Tisch im Zimmer des ermordeten ›Chinesen‹ –. Im offenen Kamin knallten die Buchenscheiter. Hell war die Flamme des Holzes und schon ihr Anblick gab warm. Dem Wachtmeister gegenüber, in einem bequemen Klubsessel, saß der Notar Münch und hatte das rechte Bein über das linke geschlagen. Studer saß da in seiner Lieblingsstellung, die Ellbogen auf den gespreizten Schenkeln, die Hände gefaltet und starrte in die Flammen. Zwei Wände des Zimmers waren mit Gestellen bekleidet, und als der Wachtmeister die Bücherrücken während des nun folgenden Vortrages von ferne prüfte, sah er alte Bekannte wieder: Groß: ›Handbuch für Untersuchungsrichter‹, die Werke Locards, Lombrosos, Rhodes' – zwei Etageren waren gefüllt mit Kriminalromanen: Agatha Christie, Berkeley, Simenon…
    »Sie können es nicht einmal zu einem geregelten Leben bringen – zu einem finanziell geregelten Leben, meine ich; alles scheint ihnen unter den Fingern kaputt zu gehen, sie können sich in keiner Stellung halten, und wenn sie zufällig Geld von ihren Eltern geerbt haben, so verlieren sie dieses Geld – und nicht einmal durch eigene Schuld… Durch einen Bankkrach, durch die Unehrlichkeit eines Notars – dies soll keine Anspielung auf dich sein, lieber Münch…«
    »Hoffentlich!« brummte der Notar und fuhr mit dem Zeigefinger zwischen Kragen und Hals.
    »Sie sehen, Studer, wie empfindlich die Menschen sind… Ich habe versucht, der Regierung einmal meine Theorie des Pauperismus auseinanderzusetzen – der Pauperismus als Schicksal und nicht als Verschuldung –, aber ich bin nicht angehört worden. Und doch könnte ich tagtäglich den Beweis für meine Theorie führen. Wenn Sie wüßten, Studer, wie viele Schicksale durch meine Hände gehen!… Ich habe es erlebt, daß Leute in Pfründisberg eingewiesen worden sind, nur weil sie arbeitslos waren! Ich gebe mir die größte Mühe, diesen Individuen zu helfen – aber der Fluch ist eben die Gemeinschaft, in der sie leben müssen. Sie machen sich keinen Begriff, Studer, welchen Einfluß das Milieu hat. Zehn Schnapser und Faulenzer können 100 anständige Menschen schlecht machen. Und der Fluch ist eben, daß wir zehn Schnapser und Faulenzer haben. Vergeblich habe ich versucht, den Behörden begreiflich zu machen, diese Elemente auszuschauben… Umsonst! Man gibt mir zur Antwort: Die Leute haben nichts verbrochen, sie sind schuldlos in das Unglück geraten. Unsere Armenbehörde hat die Pflicht, diesen Unglücklichen zu helfen. Nun urteilen Sie selbst, Studer, wir erhalten für jeden Zögling ein Taggeld von Fr. 1.17; das muß für alles langen: für Nahrung, für Kleidung, für Arzt. Wie soll ich das nun machen? Ich kann den Leuten kein anständiges Essen vorsetzen – und Sie werden mir zugeben müssen, daß schlechtes Essen auch dem Geist schadet. Ich tue mein möglichstes…«
    »Und schaffst dir ein Auto an!« dachte Studer.
    Es waren viele Dinge, die den Wachtmeister an Herrn Hungerlott störten: da war zuerst der aus zwei Ringen

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