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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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Stockwerk hinauf. Auch hier mußte Studer zuerst die Schlafsäle bewundern, ihr spiegelndes Parkett, die weißgestrichenen Eisenbetten, auf denen rotgewürfelte Federdecken und Kissen lagen. Dann endlich trat die Gruppe auf den Gang hinaus (ein Kokosläufer bedeckte seine grauen Fliesen und der Waschraum enthielt zwei Dutzend weiße Porzellanbecken mit Hähnen darüber für kaltes und warmes Wasser) und blieb vor einem Schrank stehen, der in schwarzer Farbe die Nummer 26 trug.
    »Aufmachen!« kommandierte der Direktor, und zum Wachtmeister gewandt, fügte er hinzu: »Ich besitze natürlich einen zweiten Schlüssel für jeden Schrank, aber es scheint mir…«
    Ernst Äbi öffnete seinen Schrank… Arbeitskleider, ein Sonntagsanzug… Wäsche, Schuhe… Studer begann auszuräumen und legte jeden Gegenstand fein säuberlich auf den Kokosläufer. Von Zeit zu Zeit schielte er auf den Äbi Ernst und wunderte sich über die bleiche Nasenspitze des Burschen. Verschwommen dachte der Wachtmeister dabei an das vor kurzem durchblätterte Buch, er hätte gern dem Schüler den Puls gefühlt, um zu wissen, ob er schneller schlug. Wahrscheinlich… Menschen brauchten eben keinen giftigen Fremdstoff, wie die Pflanzen, um den Blutkreislauf zu beschleunigen…
    »Was ist das?« Studer hatte die Schuhe herausgezogen, nun hielt er ein verschnürtes Päcklein in der Hand und wog es mißtrauisch. »Was ist das?« wiederholte er.
    Keine Antwort. Ernst Äbi hatte eine verstockte Miene aufgesetzt. So knüpfte der Wachtmeister den Knoten auf, streifte das Papier ab und betrachtete den Inhalt.
    Ein Schlafanzug aus Rohseide. Auf den Hosen ein paar rote Spritzer… der Kittel jedoch starrte von Blut. Auf der linken Vorderseite ein ausgefranstes Loch.
    »Was ist das?« fragte Studer zum dritten Male. Da der Schüler immer noch schwieg, begehrte der Direktor auf:
    »So antworte doch!« Aber Ernst Äbi hatte die Lippen zwischen die Zähne gezogen, nun war nicht nur die Nase bleich, sondern das ganze Gesicht. Das Knechtlein aber war puterrot geworden und starrte ängstlich auf seinen Stiefbruder…
    Studer versuchte es noch einmal:
    »Wo hast du das gefunden, Ernstli?«
    Wieder das verstockte Schweigen. Mit Güte war da auch nichts auszurichten. So ließ Studer die blutbefleckte Wäsche auf den Boden fallen, trat mit dem Packpapier ans Fenster und untersuchte es… Kein Zweifel: die Adresse, die darauf gestanden hatte, war mit einem Federmesser ausradiert worden. Hielt man jedoch das braune Papier gegen die Glasscheibe, so ließen sich deutlich Buchstaben erkennen:
»Herrn Paul Wottli, Gartenbaulehrer, Pfründisberg bei Gampligen.«
    Und als Absender:
»Frau Emilie Wottli, Aarbergergasse 25, Bern.«
    Es konnte ein Anhaltspunkt sein. Der wohlgenährte Direktor hatte des Wachtmeisters Tun mit glotzenden Blicken verfolgt…
    – Ob Herr Studer etwas gefunden habe, wollte er wissen und spielte mit der Uhrkette aus Weißgold, die über seinem Ränzlein baumelte. Der Gefragte zuckte schweigend mit den Achseln.
    Wottli… Wottli… Der Name kam ihm bekannt vor. War das Knechtlein Ludwig nicht zu einem gewissen Wottli geschickt worden? Hatte nicht der Lehrer Wottli für den Direktor einspringen müssen?
    »Wie heißen Ihre Lehrer, Herr Direktor?«
    Sack-Amherd hob seine Rechte und zählte gehorsam die Mitglieder seines Lehrkörpers auf:
    »Blumenstein, der den Obstbau gibt – Kehrli, der den Gemüsebau lehrt, und Wottli, der Topfpflanzen, Düngerlehre und Chemie gibt. Ein tüchtiger Lehrer, der Wottli… Darum hab' ich ihn auch für die Aufsicht bestimmt…«
    »Ist Wottli verheiratet?«
    »Nein, Herr Wachtmeister; er sorgt für seine Mutter – und Frau Wottli lebt in Bern. Ein guter Sohn, ein braver Sohn…« Wie süß klang die Stimme des Direktors! Und seine Lippen bildeten ein Kreislein. »O ja! Der Lehrer Wottli wird es noch weit bringen. Übrigens… Auch mit dem seligen Farny war mein Lehrer« – »Mein Lehrer«… sagte der dicke Mann! – »war mein Lehrer gut befreundet… Es würde mich nicht wundern, wenn Wottli etwas erben würde… Er war ja reich, dieser merkwürdige Gast, der seine Memoiren in einer abgelegenen Beiz schrieb…«
    Auch Direktor Sack-Amherd wußte also, daß der ›Chinese‹ seine Memoiren schrieb.
    »Haben Sie diese Memoiren gelesen, Herr Direktor?«
    »Zum Teil nur… Einmal las uns Herr Farny aus ihnen vor.«
    Plötzlich wandte sich Studer an den Schüler Äbi:
    »Wo hast du das Packpapier gefunden?«
    Schweigen…

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