Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
Vom Netzwerk:
verschwunden. Das Heft und wahrscheinlich eine Schreibmappe, die Papiere enthielt. Wie war der ›Chinese‹ zu diesen Briefen gekommen?
    »Wie ist Frau Hungerlott mit ihrem Onkel ausgekommen?« fragte Studer.
    »Ihr beantwortet mir meine Frage nicht, und ich soll Euch Auskunft geben?«
    »Wottli! Denkt ein wenig nach! Ich kann nicht antworten, weil ich nicht sicher bin. Ihr könnt mir antworten, um mir zu helfen. Wollt Ihr das tun? Ich tu dann mein möglichstes, um Euch am Sonntag reisen zu lassen. Ist Euch das recht?«
    »Erst am Sonntag? Warum nicht heut? Meint Ihr, ich wolle anwesend sein, wenn Ihr Eure Aufklärung erzählt?«
    Studer dachte angestrengt nach – welches war die beste Lösung? Sollte er, der einfache Fahnderwachtmeister, den Richter spielen? Er hielt die Lider gesenkt und rührte sich nicht, während Wottli im Zimmer hin und her lief. Der Lehrer schien das Schweigen nicht ertragen zu können, denn er begann wieder aufgeregt zu sprechen:
    »Nur einmal in der Woche ist der Hungerlott in die Stadt gefahren – nur einmal konnt ich die Anna sehen. So vorsichtig sind wir gewesen – immer haben wir uns im Wald getroffen. Nie sind wir zusammen in Pfründisberg gesehen worden – aber ein Schüler hat uns einmal im Wald ertappt. Ertappt! Ja… Er hat gegrinst, der Holländer. Nur einmal hab ich mich mit der Anna hier getroffen – da ließ sie mich rufen. Ihr Mann wollte ihren Stiefbruder verhaften lassen. Sie mochte das Knechtlein gerne und bat mich, auch mit ihrem Mann zu sprechen. Ich tat's dann – aber ungern. Und weil wir uns nicht sprechen konnten, schrieb ich ihr Briefe. Während ihrer Krankheit schrieb ich jeden Tag und gab dem Ernst, ihrem Bruder, der sie jeden Tag besuchen ging, die Briefe mit. Einmal – nein, ein paarmal – bat ich sogar den Onkel darum. Der besuchte sie auch. Einmal hat sie dem Ernst einen Brief mitgegeben. Darin schrieb sie, jemand vergifte sie. Aber ich wollte es nicht glauben… Trotzdem… trotzdem ich dem Hausvater einmal… einmal… Nein! Ich kanns nicht sagen!«
    Schweigen. Studer wartete. Sein Stuhl stand vor dem Tisch, auf dem der Paß lag. Der Lehrer saß hinter ihm auf dem Bett. Der Wachtmeister lauschte, die Muskeln seiner Beine waren gespannt – beim leisesten Geräusch in seinem Rücken wollte er sich rechts vom Stuhl auf den Boden fallen lassen, um einem Angriff auszuweichen. Erfolgte der Angriff jedoch nicht, so hatte ein Mensch seine Unschuld bewiesen. Um ganz sicher zu gehen, fragte er leise:
    »Wie hieß die Samenbeize, Wottli?«
    Ein Seufzer. Er klang befreit. Feste Schritte waren zu hören – und kein Schleichen. Gerade aufgereckt stand der Lehrer vor dem Wachtmeister: »Also, habt Ihr begriffen? Habt mich verstanden? Wie ich gestern das Uspulun – jawohl, Uspulun heißt es – in der Tasche des Toten sah, wußte ich, daß die Anna recht hatte. Sie war von ihrem Bruder vergiftet worden – warum? Weil der Ernst erben wollte. Versteht Ihr? Wie muß einem Lehrer zumute sein, der entdeckt, daß einer seiner Schüler ein Mörder ist? Und der Mörder begeht Selbstmord! Denn Ihr glaubt doch nicht an die Schlüsselverwechslung? Oder?«
    Studer blieb regungslos sitzen. Er hob nicht den Kopf, und seine Hände blieben gefaltet.
    »Wenn man denkt, wie der Fremde, der doch sein Onkel war, für den Burschen sorgte! Und ich bin sicher, daß dieser Ernst nicht nur seine Schwester, sondern auch seinen Onkel ermordet hat! Ihr nicht auch, Studer? So redet doch endlich! Hocked doch nicht da wie ein Ölgötz! Der Fremde hat sich hier ankaufen wollen – den Garten sollte ich entwerfen, ihn mit meinen Schülern anlegen. Ich schlug ihm vor, einen Wettbewerb zu machen – unter meinen Schülern. Jeder sollte einen Plan zeichnen, für den besten sollte er einen Preis geben von fünfhundert Franken. Das wär doch schön gewesen, und der James (›Jammes‹ sagte der Lehrer) war einverstanden. Ich wollte gar nichts verdienen – und als er mir eine Erbschaft versprach, wurde ich bös und sagte, nie würde ich sie annehmen. ›Du wirst es schon, wenn ich tot bin, Paul!‹ antwortete er darauf. Ja, so ist es zugegangen!«
    Langsam, ganz langsam entfalteten sich Studers Hände, seine Beine streckten sich, der breite massige Rumpf stieg in die Höhe und der Schnurrbart zitterte. Die Augen streiften im Zimmer umher, sahen die Bücher an den Wänden: Groß und Locard und Rhodes, sie erinnerten den Wachtmeister an seine eigene Bibliothek.
    »Paul«, sprach der Wachtmeister und

Weitere Kostenlose Bücher