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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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sprechen. Während der Abwesenheit Herrn Wottlis bitte er die Klasse, ruhig zu bleiben und sich mit einer anderen Arbeit zu beschäftigen. Vor allem aber müsse er verlangen, daß niemand das Treibhaus betrete, besser noch sei es, wenn es überhaupt nicht aufgesucht werde. Ob man ihm dies versprechen wolle? – Amstein stand auf, erklärte, er sei hier Klassenchef und werde dafür sorgen, daß die Wünsche des Wachtmeisters erfüllt würden. Studer dankte und verließ die Klasse.
    »So«, sagte Studer draußen auf dem Gang. »Jetzt können wir gehen. Wo wohnt Ihr eigentlich, Wottli?«
    »In der Wirtschaft ›zur Sonne‹.«
    Studer blieb stehen. »Wo?« fragte er erstaunt.
    »In der Wirtschaft; warum erstaunt Euch das?«
    »In welchem Stock?«
    »Im ersten… Im Zimmer über dem Farny.«
    »Wird nid sy…«
    Sie nahmen den Weg, der am Armenhaus vorbeiführte. Still war es im Hofe – 's Trili-Müetti sang nicht, wusch nicht. Und niemand tanzte mit einem Reisbesen über die festgetretene Erde…
    Hinter Wottli betrat der Wachtmeister das Zimmer – und was er sah, erstaunte ihn wenig. Zwei Koffer standen auf dem Boden, Studer hob sie auf. Sie waren voll gepackt. Auf dem Tische lag ein braunes Heftli – der Schweizer Paß.
    »Wollt Ihr verreisen?«
    »Ja… Aber ich wär' nicht fortgefahren, ohne mit Euch zu sprechen.«
    »Und warum wollt Ihr verreisen?«
    »Ich hab Angst, Studer.«
    »Vor mir?«
    Kopfschütteln. Schweigen. Studer griff an:
    »Was habt Ihr mit der Frau Hungerlott gehabt, Wottli?«
    »Wißt Ihr das auch schon?«
    »Denket doch, daß Ihr in einem kleinen Kaff gelebt habt. Meinet Ihr, niemand habe Euch gesehen?«
    »Wohl… Schon… Aber ich hab mir nichts vorzuwerfen. Nur – die Frau war unglücklich. Der Mann quälte sie und sie hatte niemanden. Einmal habe ich sie getroffen – das ist schon lange her, sechs Monate vielleicht – da sprach sie mich an. Der Hungerlott war nicht daheim, sondern nach Bern gefahren. Und wir sind damals zum erstenmal miteinander spazieren gegangen. Sie hat's nie schön gehabt, die Anna. Daheim nicht – dann nahm sie in einem Bureau eine Stelle an und dort lernte sie ihren Mann kennen. Eigentlich hat sie ihn nur geheiratet, um aus der Stadt zu kommen und ihren Vater nicht mehr zu sehen. Und hier ist es ihr auch nicht gut gegangen.«
    Studer hatte sich auf einen Stuhl gesetzt – und nun hockte er da, in seiner Lieblingsstellung, die Hände gefaltet, die Unterarme auf den Schenkeln.
    »Wie ist sie gestorben?«
    »Ich darfs nicht sagen… Ich darfs nicht sagen!«
    »Warum?«
    »Weil ich nichts beweisen kann.«
    »Mit wem habt Ihr über die Sache geredet?«
    »Woher wißt Ihr das? Woher wißt Ihr, daß ich mit jemandem über den Tod der Anna geredet hab?«
    Selbst ein gütiger Mensch rächt sich bisweilen gerne.
    »Ich hab gmeint, Ihr seid so beschlagen in Kriminologie? Ihr habt doch Werke durchgearbeitet, oder?«
    »Aber Studer! Ihr müßt mich nicht verspotten! Es war ein Fehler von mir, gestern so zu sprechen – aber ich hab Angst gehabt, daß Ihr etwas… etwas… etwas. .. gefunden habt!«
    Gefunden?… Studer grübelte… Was hätte er finden können? Sein Gesicht blieb ausdruckslos, als er sagte:
    »Vielleicht hab ich etwas gefunden.«
    »Was müßt Ihr dann von mir denken! Glaubt Ihr nicht, daß ich mich dumm benommen hab?«
    Dumm benommen… ? Studer versuchte es mit einem Lächeln. Wottli brauste auf: »Natürlich, jetzt lacht Ihr mich aus! Warum? Weil ich Liebesbriefe geschrieben hab? Ich hatte sie doch gern, die Anna! Sie wollte scheiden, wir hätten geheiratet… Sie behauptete, sie habe meine Briefe versteckt – und jetzt… jetzt hat sie die Justiz…« (Wahrhaftig! Wottli sagte ›Justiz‹… Und nicht etwa Schroterei…) »Wer hat Euch die Briefe gegeben? Wenns der Ernst Äbi war, so hat er seinen Tod verdient. Saget, wars der Ernst Äbi? Oder sein Vater? Oder seine Mutter? Ich konnte nie erfahren, wo die Anna meine Briefe verbarg… Und Ihr waret doch gestern in der Aarbergergaß. Bei meiner Mutter. Sie hat auch versucht, die Briefe wieder zu finden. Sagt mir doch, von wem Ihr sie habt!«
    Studer schwieg. Innerlich freute er sich, weil er sich gestern nicht geirrt hatte: Popingha, der holländische Gartenbauschüler, hatte ihm das Ende des Fadens in die Finger gegeben, mit dem man den Knäuel aufdröseln konnte.
    Es lag auf der Hand: Farny James, der ›Chinese‹, hatte die Briefe besessen – darum war das letzte Heft, in das er geschrieben hatte,

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