Der Chinese
Pelzmütze auf dem Kopf in der Tür, als sie für ihn sangen. Für Birgitta war es eine Erleichterung, ihre Familie und die Freunde um den Tisch versammelt zu sehen. Die Ereignisse in Hälsingland, auch ihr hoher Blutdruck, verloren an Bedeutung, als sie die Ruhe empfand, die nur die Familie ihr geben konnte. Natürlich wünschte sie, dass Anna aus Asien hätte kommen können. Doch das hatte sie nicht gesagt, als sie endlich Kontakt über ein rauschendes Handy in Thailand mit ihr bekamen.
Es war schon Nacht, als nur noch die Familie versammelt war, nachdem die übrigen Gäste gegangen waren. Sie hatte gesprächige Kinder, die es liebten, zusammen zu sein. Sie und ihr Mann saßen auf dem Sofa und lauschten amüsiert den Erzählungen. Dann und wann stand sie auf und füllte die Gläser nach. Die Zwillinge Siv und Louise wollten bei den Eltern übernachten, aber David hatte sich trotz Birgittas Protesten ein Hotelzimmer genommen. Erst gegen vier Uhr am Morgen endete die Unterhaltung.
Schließlich waren nur noch die Eltern wach, räumten auf, stellten die Spülmaschine an und brachten die leeren Flaschen in die Garage.
»Das war eine Riesenüberraschung«, sagte Staffan, als sie sich am Küchentisch niedergelassen hatten. »Das werde ich nie vergessen. Unerwartetes kann oft schmerzhaft sein. Aber heute war es ein Geschenk. Gerade heute war ich es plötzlich richtig leid, durch Eisenbahnwaggons zu wandern. Ich reise und reise, komme aber nirgendwo an. Das ist der Fluch von Zugschaffnern und Lokführern. Wir sind ständig in unseren gläsernen Blasen unterwegs.«
»Wir sollten so etwas öfter machen. In solchen Augenblicken gewinnt das Leben eine andere Bedeutung. Nicht nur Pflicht und Nutzen.«
»Und jetzt?«
»Was meinst du?«
»Du bist noch vierzehn Tage krankgeschrieben. Was willst du machen?«
»Mein Chef, Hans Mattsson, redet begeistert von den Vormittagen, an denen er ausschlafen kann. Vielleicht sollte ich das in der nächsten Zeit auch mal tun?«
»Flieg eine Woche in die Wärme. Nimm eine Freundin mit.«
Sie schüttelte zögernd den Kopf. »Vielleicht. Aber wen?«
»Karin Wiman.«
»Die fliegt nach China, um zu arbeiten.«
»Kannst du nicht sonst jemanden fragen? Vielleicht will eine der Zwillinge mit?«
Der Gedanke war verlockend. »Ich rede mit ihnen. Aber erst will ich spüren, ob ich wirklich Lust habe zu reisen. Vergiss nicht, dass ich auch noch zum Internisten soll.«
Er legte die Hand auf ihren Arm. »Du sagst mir doch die Wahrheit? Ich muss mir keine Sorgen machen?«
»Nein. Es sei denn, mein Arzt sagt mir nicht die Wahrheit. Aber das glaube ich nicht.«
Sie blieben noch eine Weile sitzen, bevor sie ins Bett gingen. Als sie am nächsten Tag wach wurde, war er schon fort. Auch die Zwillinge waren nicht mehr da. Sie hatte bis halb zwölf geschlafen.
Hans Mattssons ersehnter Ausschlafmorgen, dachte sie. So einen Morgen möchte er haben.
Sie sprach am Telefon mit Siv und Louise, aber keine von beiden hatte Zeit zu verreisen, obwohl sie beide Lust hatten. Am Nachmittag erhielt Birgitta Roslin noch die Mitteilung, dass sie aufgrund einer Absage schon am nächsten Tag bei dem Spezialisten, an den sie überwiesen worden war, ihre Proben abnehmen lassen könnte.
Gegen vier Uhr klingelte es. Sie fragte sich, ob es eine weitere Gratislieferung von chinesischem Essen war. Aber als sie öffnete, stand Kriminalkommissar Hugo Malmberg vor der Tür. Er hatte Schnee im Haar und trug altmodische Galoschen. »Ich habe zufällig Hans Mattsson getroffen. Er erzählte mir, dass es dir nicht gutgeht. Im Vertrauen, weil er weiß, dass wir uns gut kennen.«
Sie bat ihn herein. Obwohl er korpulent war, hatte er kein Problem, sich zu bücken und seine Galoschen auszuziehen. Sie tranken Kaffee in der Küche. Sie erzählte von ihrem Blutdruck und den Blutwerten und dass derartige Probleme nicht ganz ungewöhnlich in ihrem Alter seien.
»Mein hoher Blutdruck tickt wie eine Zeitbombe in mir«, sagte Hugo Malmberg düster. »Ich nehme Medikamente, und mein Arzt sagt mir, dass meine Werte nicht schlecht sind. Aber trotzdem mache ich mir Sorgen. In meiner Familie ist nie jemand an einem Tumor gestorben. Alle, Frauen wie Männer, sind durch Schlaganfälle oder Herzinfarkte zu Boden gegangen. Jeden Tag muss ich mich anstrengen, um nicht von meiner Angst besiegt zu werden.«
»Ich war in Hudiksvall«, sagte Birgitta Roslin. »Du
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