Der Chinese
sie mit Staffan über ihren Entschluss. Falls er erstaunt war, ließ er es sich nicht anmerken. Karin Wiman war in seinen Augen die denkbar beste Gesellschaft.
»Ich habe auch daran gedacht«, sagte er. »Als du erzähltest, dass Karin nach China wollte. Ich bin also nicht völlig überrumpelt. Was sagt der Arzt?«
»Er hat gesagt: Fahren Sie!« »Dann sage ich das Gleiche. Aber ruf die Kinder an, damit sie sich keine Sorgen machen.«
Am Abend rief sie die drei, die sie erreichen konnte, der Reihe nach an. Der Einzige, der Bedenken äußerte, war David. So weit, so plötzlich?
Sie beruhigte ihn mit ihrer guten Reisebegleitung und damit, dass die Ärzte, bei denen sie in Behandlung war, keine Einwände hatten.
Sie suchte einen Stadtplan und fand mit Staffans Hilfe das Hotel Dong Fang, in dem sie wohnen sollte. »Ich beneide dich«, sagte er plötzlich. »Auch wenn in unserer Jugend du die Chinesin warst und ich der leicht schreckhafte Liberale, der an ruhigere gesellschaftliche Veränderungen glaubte, habe ich davon geträumt, einmal nach China zu kommen. Vor allem nach Peking. Ich bilde mir ein, dass die Welt sich vom dortigen Horizont aus anders darstellt als aus der Sicht meiner Züge nach Alvesta und Nässjö.«
»Stell dir vor, dass du mich als Kundschafterin ausschickst. Dann fahren wir im Sommer beide hin, wenn es keine Sandstürme gibt.«
Die Tage bis zur Abreise verbrachte sie in immer gespannterer Erwartung. Als Karin Wiman von Kastrup abflog, war sie dort, um ihr eigenes Flugticket abzuholen. Sie verabschiedeten sich in der Abflughalle.
»Vielleicht gut so, dass wir an verschiedenen Tagen fliegen«, sagte Karin. »Da ich auf diesem Kongress eine wichtige Person bin, bekomme ich zum Lohn dafür eine bequeme Reise. Es wäre ja nicht schön gewesen, wenn wir in verschiedenen Klassen geflogen wären.«
»Ich bin jetzt so aufgeregt, dass ich mit dem Güterwagen reisen würde, wenn es nötig wäre. Versprichst du mir, dass du mich abholst?«
»Ich bin da.«
Am Abend, als Karin schon in Peking sein musste, durchsuchte Birgitta in der Garage einen Karton. Ganz unten fand sie, was sie suchte, ihr altes, abgegriffenes Exemplar von Maos Zitatenbuch. Auf der ersten Seite des kleinen Buchs mit dem roten Plastikeinband stand ein Datum, das sie geschrieben hatte: 19. April 1966.
Ich war ein Mädchen damals, dachte sie. Fast in allen Belangen unschuldig. Ein einziges Mal war ich mit einem jungen Mann zusammen, mit Tore aus Borstahusen, der davon träumte, Existentialist zu werden, und den es bedrückte, dass er keinen kräftigen Bartwuchs hatte. Mit ihm verlor ich in einer ausgekühlten Gartenlaube, die nach Schimmel roch, meine Unschuld. Ich weiß nur noch, dass er fast unerträglich tollpatschig war. Hinterher wuchs das Klebrige zwischen uns zu etwas an, was dazu führte, dass wir so schnell wie möglich auseinandergingen und uns nie mehr in die Augen sahen. Was er seinen Freunden über mich erzählt hat, frage ich mich noch heute. Was ich meinen Freundinnen sagte, weiß ich nicht mehr. Aber genauso wichtig war die politische Unschuld. Und dann kam der rote Sturm und riss mich mit. Obwohl ich nie so lebte, wie es dem Wissen über die Welt, das ich damals bekam, angemessen gewesen wäre. Nach der Zeit bei den Rebellen versteckte ich mich. Es gelang mir nie, mir Rechenschaft darüber abzulegen, warum ich mich von etwas mitreißen ließ, was fast wie eine religiöse Sekte war. Karin ging zur Linkspartei. Ich selbst wanderte weiter zu amnesty, und jetzt bin ich ziellos.
Sie setzte sich auf einen Stapel Sommerreifen und blätterte in dem kleinen roten Buch. Zwischen zwei Seiten tauchte ein Foto auf. Es zeigte sie und Karin Wiman. Sie erinnerte sich noch an die Gelegenheit. Sie hatten sich auf dem Bahnhof von Lund in eine Fotokabine geklemmt, wie üblich war Karin die Tonangebende gewesen, hatten Geld in die Münzöffnung gesteckt und dann auf die Serie von Bildern gewartet. Sie lachte laut, als sie das Bild sah, erschrak aber zugleich über den Abstand. Dieser Teil des Pfads lag so weit zurück, dass sie sich kaum den ganzen Weg vorstellen konnte, den sie seitdem gegangen war.
Der kalte Wind, dachte sie. Das Alter tappt auf leisen Sohlen ganz dicht hinter mir. Sie steckte das Zitatenbuch ein und verließ die Garage. Staffan war gerade nach Hause gekommen. Sie setzte sich ihm gegenüber, während er das Essen aß, das sie ihm hingestellt hatte.
»Ist
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