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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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gegen jene Kräfte in der Gesellschaft, die seine Macht herausforderten.
     
    Zu dieser Zeit hatte Mao angefangen zu altern. Die Frage nach seinem Nachfolger stand stets ganz oben auf seiner Tagesordnung. Als sich dann Lin Biao, der Auserkorene, als Verräter erwies und während seiner Flucht nach Moskau mit dem Flugzeug abstürzte, begann Mao die Kontrolle zu verlieren. Doch bis zuletzt richtete er Ermahnungen an die, die ihn überleben sollten. Neue Klassenkämpfe würden entstehen, neue Gruppen, die auf Kosten anderer Privilegien zu erhalten suchten. Um Maos ständig wie ein Mantra wiederholte Worte zu benutzen, dass »das eine wie gewöhnlich von seinem Gegenteil ersetzt werden sollte«. Nur der Dumme, der Ahnungslose, der sich weigerte zu sehen, was alle anderen sehen konnten, würde sich einbilden, Chinas zukünftiger Weg wäre ein für alle Mal festgelegt.
     
    »Heute«, sagte Yan Ba, »ist Mao, unser großer Vorsitzender, unser großer prophetischer Steuermann, seit dreißig Jahren tot. Es zeigt sich, dass er recht hatte. Doch die Kämpfe, die er voraussah, konnte er nicht identifizieren. Er versuchte es auch nicht, weil er wusste, dass es nicht möglich war. Die Geschichte kann nie exaktes Wissen über die Zukunft vermitteln, eher zeigt sie uns, dass unsere Fähigkeit, uns auf Veränderungen vorzubereiten, begrenzt ist.« Yan Ba spürte, dass die Zuhörer seinen Worten weiter mit konzentrierter Aufmerksamkeit folgten. Jetzt, da er mit der historischen Einleitung fertig war, wusste er, dass sie noch hellhöriger werden würden. Viele hatten sicher schon eine Ahnung davon, was kommen würde. Es handelte sich um intelligente Menschen mit tiefen Einsichten in Bezug auf all die großen Herausforderungen und Bedrohungen, die sich innerhalb der Grenzen Chinas versteckten. Aber erst jetzt sollte entschieden werden, wie die Politik angesichts der zu erwartenden großen und dramatischen Veränderungen auszusehen hatte. Yan Ba wusste, dass er eine der wichtigsten programmatischen Reden in der Geschichte des neuen China hielt. Eines Tages würden seine Worte vom Präsidenten wiederholt werden.
     
    Neben der Lampe am Rednerpult war diskret eine kleine Uhr angebracht. Yan Ba leitete die zweite Stunde seiner Rede damit ein, dass er die gegenwärtige Situation Chinas und die notwendigen Veränderungen beschrieb. Er schilderte die wachsende Kluft zwischen den Menschen im Lande, die jetzt die Entwicklung bedrohte. Es war notwendig gewesen, die Küstengebiete und die großen Industriezentren, die eigentliche Achse der wirtschaftlichen Entwicklung, zu stärken. Nach Maos Tod hatte Deng die richtige Einschätzung vorgenommen, dass es nur einen Weg gab: heraus aus der Isolierung, mit weit geöffneten Türen zur Umwelt. Er zitierte Dengs berühmte Rede: »Unsere Türen, die jetzt aufgestoßen werden, können nie wieder geschlossen werden.« Chinas Zukunft könne nur aus einer Zusammenarbeit mit der Umwelt erwachsen. Dengs Wissen darüber, wie der Kapitalismus und die Kräfte des Marktes sinnvoll miteinander kooperierten, hatte ihm zu der Überzeugung verholfen, dass China nicht mehr weit von dem Augenblick entfernt war, da die Zeit reif war, da der Apfel gepflückt werden konnte und das Land seiner Rolle als Reich der Mitte wieder gerecht werden würde: eine in Entstehung begriffene Großmacht, in weiteren dreißig oder vierzig Jahren die politisch wie wirtschaftlich führende Nation in der Welt. In den letzten zwanzig Jahren hatte China eine beispiellose wirtschaftliche Entwicklung genommen. Bei einer Gelegenheit hatte Deng die Meinung geäußert, dass der Sprung von dem Punkt, wo alle eine Hose haben, zu dem, wo alle wählen können, ob sie eine zweite Hose haben wollen, ein in vielfacher Hinsicht größerer Sprung ist als der erste. Diejenigen, die Dengs Ausdrucksweise verstanden, wussten, dass er etwas sehr Einfaches meinte; nicht alle konnten gleichzeitig die zweite Hose bekommen. Das war auch zu Maos Zeit so gewesen, als die Bevölkerung in den entlegenen Regionen und die ärmsten Bauern in ihren elenden Dörfern zuletzt an die Reihe kamen, wenn die Menschen in den Städten ihre alten Lumpen schon fortgeworfen hatten. Deng wusste, dass die Entwicklung nicht überall gleichzeitig stattfinden konnte. Es sprach gegen alle ökonomischen Gesetze. Einige würden vor anderen reich
     
    - oder zumindest weniger arm sein. Die Entwicklung würde auf einem Seil balancieren, wobei es darauf zu achten galt, dass der Reichtum nicht zu

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