Der Chinese
groß wurde, die Armut auch nicht, damit die Kommunistische Partei und ihr innerer Kern, die diesen Balanceakt ausführten, nicht in den Abgrund stürzten. Deng war jetzt nicht mehr da. Doch was er gefürchtet und wovor er gewarnt hatte, der Augenblick, in dem das Gleichgewicht sich anschickte zu verschwinden, dieser Augenblick war jetzt gekommen.
Yan Ba war zu dem Punkt gelangt, wo zwei Wörter seine Rede dominieren sollten. Das eine Wort war »Bedrohung«, das andere war »Notwendigkeit«. Er begann von den existierenden Bedrohungen zu sprechen. Die eine entsprang der geweiteten Kluft zwischen den Menschen im Lande. Während die Bewohner der Küstenstädte sehen konnten, wie ihr Wohlstand wuchs, erlebten die armen Bauern, dass ihr Leben kaum besser wurde. Schlimmer noch, sie sahen auch, dass sie sich von ihrer Landwirtschaft kaum noch ernähren konnten. Das Einzige, was ihnen übrigblieb, war, in die Städte abzuwandern, in der Hoffnung, dort Arbeit zu finden.
Noch wurde diese Bewegung vom Land in die Städte und ihre Industrien, nicht zuletzt die, die für den westlichen Markt produzierten, sei es Spielzeug, sei es Bekleidung, von den Behörden gern gesehen. Aber was würde geschehen, wenn diese Industriestädte, diese brodelnden Baustellen, nicht mehr alle aufnehmen konnten, die in der Landwirtschaft nicht mehr gebraucht wurden? Was bisher eine Möglichkeit gewesen war, würde sich in eine Bedrohung verwandeln. Hinter denen, die in die Städte drängten, gab es viele andere. Hunderte von Millionen, die nur darauf warteten, ihren Platz in der Schlange für den einfachen Fahrschein in die Stadt einzunehmen. Welche Kräfte konnten sie zurückhalten, wenn die Alternative Armut war und ein Leben weit weg von dem Wohlstand, von dem sie hatten reden hören und an dem sie ihren Anteil einforderten? Wie sollte man hundert Millionen Menschen, die nichts außer ihrer Armut zu verlieren hatten, am Aufruhr hindern? Mao hatte gesagt, es sei immer richtig, Aufruhr zu machen. Warum sollte es jetzt ein Fehler sein, wenn sich diejenigen, die so arm waren wie vor zwanzig Jahren, erhoben und protestierten?
Yan Ba wusste, dass viele seiner Zuhörer sich schon lange mit diesem Problem beschäftigt hatten, dieser Bedrohung durch einen Zustand, der China binnen kurzem in eine Lage zurückkatapultieren konnte, in der das Land sich früher befunden hatte. Er wusste auch, dass ein Plan für den äußersten Fall vorlag, in einigen wenigen Exemplaren, in dem diese letzte Lösung ihre Form erhalten hatte. Niemand sprach davon, doch alle waren einigermaßen vertraut mit der Denkweise der Kommunistischen Partei und wussten, was dieser Plan beinhaltete. Als kleines, wenngleich eindeutiges Vorspiel hatten die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 auf die Existenz eines solchen Plans hingedeutet. Die Kommunistische Partei würde niemals zulassen, dass sich Chaos ausbreitete. Im schlimmsten Fall, wenn keine anderen Lösungen zur Hand waren, würde das Militär gegen die Menschen eingesetzt werden, die zum Aufruhr bereit waren. Auch wenn zehn oder fünfzig Millionen Menschen vor den Waffen des Militärs ständen, würde diesem befohlen werden, die Waffen zu benutzen. Kein Preis könnte zu hoch sein, damit die Kommunistische Partei ihre Macht über die Bürger und die Zukunft des Landes behielt.
Die Frage ist letztlich ganz einfach, sagte Yan Ba. Gibt es eine andere Lösung? Er gab selbst die Antwort. Es gab sie, auch wenn sie bei denen, die die chinesische Politik bestimmten, ein ganz neues Denken erforderlich machte. Die Verwirklichung dieser Lösung würde die höchste Form strategischen Denkens voraussetzen. Aber, geehrte Zuhörer, fuhr Yan Ba fort, diese Vorbereitungen haben bereits begonnen, auch wenn sie von etwas völlig anderem zu handeln scheinen. Bisher hatte er nur von China, der Geschichte und der Gegenwart gesprochen. Jetzt, da die dritte Stunde anbrach, verließ er das Land und begab sich weit über seine Grenzen hinaus. Jetzt sprach er von der Zukunft.
»Begeben wir uns«, sagte Yan Ba, »auf einen ganz anderen Kontinent, nach Afrika. In unserem Kampf um die Deckung unseres Bedarfs an Rohstoffen und nicht zuletzt an Öl haben wir in den letzten Jahren immer festere und tiefer reichende Beziehungen zu vielen afrikanischen Staaten aufgebaut. Wir waren großzügig mit Krediten und Geschenken, wir mischen uns auch nicht in die politischen Verhältnisse dieser Länder ein. Wir sind neutral, wir
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