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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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entlegenen Estrade winkte oder in einem der mächtigen Flüsse schwamm. Jetzt war die Zeit gekommen, erklärte Yan Ba, sich wieder Mao zuzuwenden und mit Demut einzusehen, dass er in Bezug auf die gegenwärtige Entwicklung recht gehabt hatte, obwohl er seit dreißig Jahren tot war. Noch immer war seine Stimme lebendig, er hatte die gefürchtete oder vielleicht gesegnete Fähigkeit des Sehers und des Propheten, vor allem aber des Wissenschaftlers besessen, in die Zukunft zu schauen, ein ganz eigenes Licht in die dunklen Räume zu werfen, in denen kommende Jahrzehnte, kommende Sprengladungen sich anschickten, von den Kräften der Geschichte vorbereitet zu werden.
     
    Aber worin hatte Mao recht gehabt? In vielem hatte er auch unrecht gehabt. Der Führer der ersten kommunistischen Dynastie hatte seine Gegenwart nicht immer so betrachtet und behandelt, wie er es hätte tun sollen. Er hatte bei der Befreiung des Landes in vorderster Reihe gestanden, und der erste lange Marsch, der über die Berge, war von einem anderen langen Marsch ersetzt worden, der mindestens ebenso lang und schwierig war, dem Weg aus dem Feudalismus hinein in eine Industriegesellschaft und in die bäuerliche Kollektivgesellschaft, in der auch die Ärmsten der Armen das Recht auf eine Hose, ein Hemd, ein Paar Schuhe - und nicht zuletzt das Recht auf Respekt und Menschenwürde hatten. Der Traum von der Freiheit, der als der geistige Gehalt des eigentlichen Befreiungskampfs anzusehen war, handelte von dem Recht auch des ärmsten Bauern, seine Träume von einer besseren Zukunft träumen zu dürfen, ohne Gefahr zu laufen, von einem tobenden Großgrundbesitzer geköpft zu werden. Jetzt waren es stattdessen diese, die geköpft werden sollten, ihr Blut sollte die Erde tränken, nicht wie früher das der armen Bauern.
     
    Aber Mao hatte sich geirrt, als er meinte, China könnte in nur wenigen Jahren einen gewaltigen wirtschaftlichen Sprung vollführen. Er war der Meinung, ein Eisenwerk sollte nicht weiter vom nächsten entfernt stehen, als dass man sehen könnte, wie die Rauchsäulen aus ihren Schornsteinen einander Signale sandten. Der Große Sprung, der China sowohl in die Gegenwart als auch in die Zukunft werfen sollte, war ein riesiger Irrtum. Statt der großen Industrien standen Menschen in ihren Hinterhöfen und schmolzen in primitiven Schmelzöfen alte Töpfe und Gabeln ein. Der Große Sprung misslang, die Latte wurde gerissen, weil sie allzu hoch gelegt worden war. Niemand konnte mehr bestreiten, auch wenn die chinesischen Historiker Mäßigung bei der Behandlung der schweren Zeit walten lassen mussten, dass Millionen Menschen verhungert waren. Es hatte eine Periode gegeben, da Maos Dynastie während einiger Jahre allen Ernstes früheren kaiserlichen Dynastien zu gleichen begann. Mao hatte sich in seine Räume in der Verbotenen Stadt eingeschlossen, er hatte nie akzeptiert, dass der Große Sprung ein Fehlschlag war, niemand durfte darüber sprechen. Aber was Mao eigentlich dachte, konnte man nicht wissen. Es gab einen Bereich, der in den Schriften des Großen Steuermanns nie behandelt wurde, seine innersten Gedanken verbarg er, niemand weiß, ob Mao jemals um vier Uhr in der Frühe aufwachte, in der einsamsten Stunde, und sich fragte, was er angerichtet hatte. Lag er wach und sah die Schatten all der hungernden, sterbenden Menschen, die auf dem Altar des unmöglichen Traums geopfert worden waren, des Traums vom Großen Sprung?
     
    Stattdessen ging Mao zum Gegenangriff über. Gegenangriff worauf? fragte Yan Ba rhetorisch und zögerte die Antwort ein wenig hinaus. Es war der Gegenangriff auf seine eigene Niederlage, seine eigene verfehlte Politik und die Gefahr, dass irgendwo im Schatten geflüstert und eine Palastrevolution vorbereitet wurde. Die große Kulturrevolution, Maos Aufforderung, »das Hauptquartier zu bombardieren«, eine neue Art von Sprengladungen, könnte man sagen, war Maos Reaktion auf das, was er um sich her sah. Mao mobilisierte die Jugend, auf die gleiche Art und Weise, wie man es in einem Kriegszustand tut. Es gab keinen Unterschied zwischen Maos Art und Weise, die Jugend zu benutzen, und der Art und Weise, wie Frankreich, England und Deutschland ihre Jugend mobilisierten, als sie im Ersten Weltkrieg auf die Schlachtfelder zog, wo sie sterben sollte und wo ihre Träume im Lehm ersticken sollten. Über die Kulturrevolution brauchte man nicht viele Worte zu verlieren, sie war Maos zweiter Irrtum, eine fast ganz persönliche Vendetta

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