Der Chinese
faulen beginnen, wenn niemand ihn pflückte.
Yan Ba begann seine Rede damit, dass er mit den Händen einen symbolischen Scheideweg zeigte. »Hier befinden wir uns«, sagte er. »Unsere große Revolution hat uns an einen Punkt geführt, von dem unsere Eltern nicht einmal träumen konnten. Einen kurzen Augenblick können wir an diesem Scheideweg noch verweilen und zurückblicken. In weiter Ferne erahnen wir das Elend und das Leiden, aus dem wir kommen. Die Generation vor uns kann sich daran erinnern, wie es war, wie Ratten zu leben. Als die reichen Grundbesitzer und die alte Beamtenschaft das Volk als seelenloses Ungeziefer betrachteten, das zu nichts anderem taugte, als sich als Kulis oder besitzlose Knechte zu Tode zu schuften. Wir können und sollen darüber staunen, was wir erreicht haben, unter der Führung unserer großen Partei und der Anführer, die uns auf unterschiedlichen, aber immer richtigen Wegen geleitet haben. Wir wissen, dass sich die Wahrheit ständig verändert, dass neue Beschlüsse gefasst werden müssen, damit die alten Richtlinien des Sozialismus und der Solidarität überdauern können. Das Leben wartet nicht, wir werden unablässig vor neue Anforderungen gestellt, und wir müssen neue Erkenntnisse suchen und für die neuen Probleme neue Lösungen finden. Wir wissen, dass wir nie ein Paradies erreichen können, das uns in einer ewigen Form umschließt. Wenn wir das glauben, wird das Paradies zu einer Falle. Es gibt keine Wirklichkeit ohne Konflikte, keine Zukunft ohne Kampf. Wir haben gelernt, dass Klassengegensätze ständig neu entstehen, genauso wie die Verhältnisse in der Welt sich verändern, aus starken Ländern schwache und danach wieder starke werden. Mao Tse-tung hat stets gesagt, dass große Unruhe unter dem Himmel herrscht, und wir können bestätigen, dass er recht hat: Wir befinden uns auf einem Schiff, das wir durch Fahrwasser navigieren müssen, deren Untiefen wir nicht kennen. Denn auch der Meeresboden bewegt sich, auch im Unsichtbaren finden sich Bedrohungen für unser Dasein und unsere Zukunft.«
Yan Ba wendete das Blatt. Er spürte, dass die Konzentration im Saal groß war. Keiner bewegte sich, alle warteten auf die Fortsetzung. Er hatte die Dauer der Rede mit fünf Stunden berechnet. Das war den Teilnehmern auch angekündigt worden. Als er dem Präsidenten mitgeteilt hatte, dass er bereit sei, dass die Rede fertig sei, hatte er erfahren, dass keine Unterbrechungen erlaubt sein würden. Die Teilnehmer sollten die gesamte Zeit auf ihren Plätzen sitzen.
»Sie müssen die Einheit des Ganzen sehen«, hatte der Präsident gesagt. »Die Einheit des Ganzen darf nicht aufgebrochen werden. Mit jeder Pause ist das Risiko verbunden, dass Zweifel aufkommen, dass es zu Rissen im ganzheitlichen Verständnis der Notwendigkeit dessen kommt, was wir tun müssen.«
In der folgenden Stunde gab Yan Ba einen historischen Rückblick auf das China, das eine Serie dramatischer Veränderungen durchlaufen hatte, nicht nur im letzten Jahrhundert, sondern in allen Jahrhunderten, die vergangen waren, seit Kaiser Qin das Land geeint hatte. Es war, als wäre dieses Reich der Mitte durch eine lange Serie heimlich angelegter Sprengladungen zusammengefügt worden. Nur die Besten, die mit der schärfsten visionären Begabung, hatten die Augenblicke vorhersehen können, in denen die Sprengungen stattfinden würden. Einige dieser Männer, unter ihnen Sun Yat-sen und nicht zuletzt Mao, hatten die vom unwissenden Volk als fast magisch betrachtete Fähigkeit besessen, die Zukunft zu lesen und selbst die Explosionen hervorzurufen, die andere - man durfte hier gern von der Nemesis Divina der Geschichte sprechen - auf dem unsichtbaren Weg des chinesischen Menschen ausgelegt hatten.
Im längsten Teil seines Vortrags widmete Yan Ba sich natürlich Mao und seiner Zeit, das war unvermeidlich. Mit ihm war die erste kommunistische Dynastie errichtet worden. Nicht dass der Begriff Dynastie zur Anwendung gekommen wäre, das wäre ein abstoßender Vergleich mit früheren Terrorregimes gewesen, aber alle wussten, dass die armen chinesischen Bauern, die die Revolution durchgeführt hatten, Mao dennoch so betrachteten.
Er war ein Kaiser, der zwar gewöhnliche Menschen in die Verbotene Stadt eintreten ließ und der sie auch nicht zwang, zur Seite zu schauen, falls sie nicht die Gefahr in Kauf nehmen wollten, geköpft zu werden, wenn der Große Führer, der Große Steuermann vorbeischritt, auf einer
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