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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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dem Korridor herein. Die Zeit war abgelaufen. Shen wurde weiß im Gesicht und packte ihren Arm. »Lass mich nicht allein«, sagte er. »Ich will nicht allein sein, wenn ich sterbe.«
     
    Hong befreite sich aus seinem Griff. Shen begann zu schreien wie ein verängstigtes Kind. Der Wärter warf ihn zu Boden. Hong verließ die Zelle und entfernte sich so schnell wie möglich. Shens verzweifelte Schreie folgten ihr. Sie hallten in ihren Ohren nach, bis sie wieder in Ha Nins Büro war. Da fasste sie ihren Entschluss. Sie konnte Shen in seiner letzten Stunde nicht allein lassen.
     
    Kurz vor sieben am nächsten Morgen fand sich Hong auf dem abgesperrten Feld ein, wo die Hinrichtungen stattfanden. Nach allem, was verlautet war, hatte das Militär dort seine Übungen abgehalten, ehe es vor fünfzehn Jahren auf dem Tiananmen eingeschritten war. Jetzt aber sollten die neun Verbrecher hingerichtet werden. Zusammen mit weinenden und frierenden Angehörigen nahm Hong hinter einer Absperrung Platz. Sie wurden von jungen Soldaten mit Gewehren im Anschlag bewacht. Hong betrachtete den jungen Mann, der ihr am nächsten stand. Er war kaum älter als neunzehn Jahre.
     
    Sie fragte sich, was er dachte. Er war so alt wie ihr Sohn. Ein geschlossener Lastwagen fuhr auf das Feld. Die neun Verurteilten wurden von ungeduldigen Soldaten von der Ladefläche geholt. Hong hatte sich immer gefragt, warum alles so schnell gehen musste. Der Tod auf dem kalten und nassen Feld hatte nichts Würdevolles. Hong sah, dass Shen stürzte, als er von der Ladefläche gestoßen wurde. Er schwieg, aber sie konnte sehen, dass seine Tränen liefen. Dagegen schrie eine der Frauen. Ein Soldat brüllte sie an. Aber sie schrie weiter, bis ein Offizier ihr mit dem Pistolengriff ins Gesicht schlug. Da ließ sie sich an ihren Platz in der Reihe schleppen. Alle mussten sich hinknien. Soldaten mit Gewehren sprangen hinzu und stellten sich hinter den Verurteilten auf. Die Gewehrmündungen waren ungefähr dreißig Zentimeter von ihrem Genick entfernt. Alles ging sehr schnell. Ein Offizier brüllte, die Schüsse wurden abgefeuert, und die Getroffenen fielen vornüber in den nassen Lehm. Als der Offizier herumging und jedem noch den Gnadenschuss gab, wandte Hong sich ab. Mehr brauchte sie nicht zu sehen. Die beiden Kugeln werden den Hinterbliebenen in Rechnung gestellt, dachte sie. Die tödlichen Schüsse müssen bezahlt werden. In den nächsten Tagen grübelte sie über das nach, was Shen gesagt hatte. Seine Worte über die Rachsucht Ya Rus hallten in ihrem Kopf wider. Sie wusste, dass er schon früher nicht gezögert hatte, Gewalt anzuwenden. Brutal, fast sadistisch. Manchmal hatte sie gedacht, ihr Bruder sei möglicherweise ein Psychopath. Dem toten Shen war es zu verdanken, dass sie vielleicht Klarheit gewinnen würde, wer er war, ihr Bruder.
     
    Es war an der Zeit. Sie wollte jetzt mit einem der Staatsanwälte sprechen, die sich ausschließlich mit der Korruption im Lande befassten.
     
    Hong zweifelte nicht. Shen hatte die Wahrheit gesagt. Zwei Tage später kam Hong am Abend auf einen Militärflugplatz außerhalb Pekings. Dort standen zwei große Passagierflugzeuge von Air China und warteten, hell erleuchtet, auf die Delegation, bestehend aus fast vierhundert Personen, die nach Zimbabwe reisen sollte.
     
    Anfang Dezember hatte Hong erfahren, dass sie an der Reise teilnehmen sollte, um Gespräche über eine vertiefte Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste von Zimbabwe und China zu führen. Bei der Zusammenarbeit ging es für die Chinesen vor allem darum, den afrikanischen Kollegen Kenntnisse und Techniken zu vermitteln. Hong hatte sich über die Nachricht gefreut, denn sie war noch nie in Afrika gewesen.
     
    Hong gehörte zu den wichtigeren Passagieren und bekam einen Platz in einer vorderen Abteilung des Flugzeugs, wo die Sitze größer und bequemer waren. Als die Maschine abgehoben hatte, verzehrte sie die ihr angebotene Mahlzeit und schlief sofort ein, nachdem das Licht abgedunkelt worden war.
     
    Sie wachte davon auf, dass sich jemand auf den freien Platz neben ihr setzte.
     
    Als sie die Augen öffnete, blickte sie direkt in Ya Rus lächelndes Gesicht. »Erstaunt, liebe Schwester? Auf der Teilnehmerliste hast du meinen Namen nicht gefunden, aus dem einfachen Grund, weil dort nicht alle aufgeführt sind. Ich habe natürlich gewusst, dass du mitkommst.«
     
    »Ich hätte wissen müssen, dass du dir diese Möglichkeit nicht entgehen lässt.«
     
    »Afrika ist

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