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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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zwischen den Bäumen zu erkennen. Hong hatte noch nie eine so kompakte Dunkelheit wie die afrikanische erlebt. Dort draußen konnte sich jeder verstecken, ein Raubtier, eines auf zwei Beinen oder auf vieren.
     
    Sie fuhr zusammen bei dem Gedanken, dass ihr Bruder dort sein könnte. Beobachtend, abwartend. Wie sie da im Dunkel saß, verspürte sie zum ersten Mal durchdringende Angst vor ihm. Als ob sie erst jetzt begriff, dass er zu allem imstande war, um seine Gier nach Macht, nach noch mehr Reichtum, nach Rache zu stillen.
     
    Als ein Insekt an ihr Gesicht stieß, zuckte sie zusammen. Ein Glas, das auf dem Bambustisch gestanden hatte, fiel auf den Steinboden und zersplitterte. Die Zikaden verstummten einen Augenblick, um gleich wieder mit dem Zirpen einzusetzen.
     
    Hong schob ihren Stuhl zur Seite, um nicht in die Glassplitter zu treten. Auf dem Tisch lag das Programm für ihre Zeit in Zimbabwe. Der heutige erste Tag war damit vergangen, dass sie einem unendlichen Aufmarsch von Soldaten und Militärkapellen beigewohnt hatten. Dann war die große Delegation, angeführt von Polizisten auf Motorrädern, in einer langen Autokarawane zu einem Lunch gefahren, wo von irgendwelchen Ministern lange Reden gehalten und Toasts ausgebracht worden waren. Präsident Mugabe, laut Programm der Gastgeber, war nicht erschienen. Erst nach dem Lunch hatten sie endlich ihre Bungalows beziehen können. Das Camp lag einige Meilen außerhalb von Harare, im Südwesten. Vom Auto aus hatte Hong die karge Landschaft und die grauen Dörfer gesehen und daran gedacht, dass Armut immer gleich aussieht, wo man ihr auch begegnet. Reiche können ihren Wohlstand dadurch ausdrücken, dass sie Variationen in ihr Leben bringen. Mehrere Häuser, Kleider, Autos. Oder Gedanken, Träume. Für die Armen aber gab es nichts als diese graue Unfreiwilligkeit.
     
    Spät am Nachmittag hatte es eine Versammlung gegeben, um die Arbeit der kommenden Tage vorzubereiten. Sie hatte es jedoch vorgezogen, das Material allein in ihrem Zimmer durchzusehen. Dann hatte sie einen langen Spaziergang zum Fluss gemacht und die langsamen Bewegungen der Elefanten im Busch und die Köpfe der Flusspferde an der Wasseroberfläche gesehen. Sie war dort unten fast allein gewesen, nur ein Chemiker von der Universität Peking und einer der radikalen Marktökonomen, die zu Dengs Zeit ausgebildet worden waren, hatten ihr Gesellschaft geleistet. Hong wusste, dass der Ökonom, dessen Namen sie vergessen hatte, enge Beziehungen zu Ya Ru unterhielt. Eine Zeitlang fragte sie sich, ob ihr Bruder einen Spion geschickt habe, um zu erkunden, was sie trieb. Aber sie schlug sich den Gedanken aus dem Kopf, dazu war ihr Bruder zu schlau.
     
    War es überhaupt noch möglich, eine Diskussion mit Ya Ru zu führen? Hatte der Riss, der die Kommunistische Partei spaltete, nicht schon den Punkt überschritten, bis zu dem ein Brückenschlag möglich war? Es ging nicht um überwindbare Meinungsverschiedenheiten in der Frage, welche politische Strategie zu einem bestimmten Zeitpunkt die geeignete war. Es handelte sich um den grundlegenden Kampf alter gegen neue Ideale, die nur an der Oberfläche für kommunistisch gehalten werden konnten, basierend auf der Tradition, in der die Volksrepublik vor siebenundfünfzig Jahren entstanden war.
     
    In mancher Hinsicht konnte man ihn für einen Endkampf halten, dachte Hong. Nicht für alle Zukunft, das wäre naive Einbildung. Ständig würden neue Gegensätze entstehen, neue Klassenkämpfe, neue Revolten. Die Geschichte hat kein Ende. Aber es gab keinen Zweifel, dass China vor einer großen Entscheidung stand. Früher hatte das Land dazu beigetragen, dass die koloniale Welt unterging. Die armen Länder Afrikas hatten sich befreit. Aber welche Rolle spielte China in der Zukunft? Die des Freundes oder die eines neuen Kolonisators?
     
    Wenn Leute wie ihr Bruder entscheiden durften, würden die festen Bastionen der chinesischen Gesellschaft zerstört werden. Dann würde eine Welle kapitalistischer Verantwortungslosigkeit die letzten Reste solidarisch aufgebauter Institutionen und Ideale hinwegfegen. Sie würden für lange Zeit nicht wieder zu erobern sein, vielleicht erst in einigen Generationen. Für Hong war es eine unumstößliche Wahrheit, dass der Mensch im Grunde ein vernunftbegabtes Wesen war, dass Solidarität Klugheit war und nicht in erster Linie Gefühl, dass die Welt, trotz aller Rückschläge, sich auf einen Punkt hinbewegte, an dem die Vernunft herrschen

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