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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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würde. Aber sie war auch überzeugt, dass beim Aufbau der menschlichen Gesellschaft nichts mit selbstverständlicher Automatik geschah. Es gab keine Naturgesetze für das Verhalten der Menschen.
     
    Wieder Mao. Es war, als schimmerte sein Gesicht dort draußen im Dunkel. Er hatte gewusst, was geschehen würde, dachte sie. Die Frage nach der Zukunft ist nie beantwortet. Er hat es oft wiederholt, und wir haben ihm nicht zugehört. Immer würden neue Gruppen versuchen, sich Privilegien zu verschaffen, immer würden neue Revolten ausbrechen. Sie saß auf der Veranda und ließ die Gedanken kommen und gehen. Sie war eingeschlummert, als ein Geräusch sie weckte. Sie lauschte. Das Geräusch wiederholte sich. Jemand klopfte an die Tür. Sie sah auf ihre Uhr. Mitternacht. Wer wollte so spät zu ihr? Sie fragte sich, ob sie öffnen sollte. Noch einmal ein Klopfen. Jemand weiß, dass ich wach bin, dachte sie, jemand hat mich hier draußen auf der Veranda gesehen. Sie ging hinein und sah durch das Guckloch in der Tür. Ein Afrikaner in der Uniform des Hotels stand draußen. Ihre Neugier gewann die Oberhand, sie öffnete. Der junge Mann reichte ihr einen Brief. Schon an ihrem Namen auf dem Umschlag erkannte sie Ya Rus Handschrift. Sie gab dem Jungen ein paar Zimbabwe-Dollars, unsicher, ob es zu viel oder zu wenig war, und kehrte auf die Veranda zurück. Dort las sie den kurzen Brief.
     
    Hong.
     
    Wir sollten Frieden halten, im Namen der Familie, im Na men der Nation. Ich entschuldige mich für die Grobheit, die ich manchmal an den Tag lege. Lass uns einander wieder in die Augen sehen. An einem der letzten Tage vor der Heim reise lade ich dich zu einem Ausflug in den Busch ein, in die wilde Natur und zu den Tieren. Dort können wir reden.
    YaRu
     
    Sie untersuchte den Text nach einer geheimen Botschaft zwischen den Worten. Sie fand nichts, auch keine Antwort auf die Frage, warum er ihr diese Mitteilung mitten in der Nacht geschickt hatte.
     
    Sie sah in das Dunkel und dachte an das Raubtier, das seine Beute sieht, ohne dass diese etwas ahnt.
     
    »Ich sehe dich«, flüsterte sie. »Woher du auch kommst, ich werde dich rechtzeitig entdecken. Du setzt dich nie wieder unbemerkt neben mich.«
     
    Hong wachte am nächsten Tag früh auf. Sie hatte unruhig geschlafen, hatte von Schatten geträumt, die sich näherten, bedrohlich, gesichtslos. Jetzt stand sie draußen auf der Veranda und betrachtete die kurze Morgendämmerung, die Sonne, die sich über der unendlichen Buschlandschaft erhob. Ein farbenprächtiger Eisvogel mit langem Schnabel landete auf dem Geländer der Veranda und erhob sich sofort wieder in die Lüfte. Der Tau der feuchten Nacht glitzerte im Gras. Von irgendwoher waren fremde Stimmen zu hören, jemand rief, lachte. Sie war von starken Düften umgeben. Sie dachte an den Brief, den sie in der Nacht erhalten hatte, und ermahnte sich zu großer Vorsicht. In diesem fremden Land war sie mit Ya Ru in gewisser Weise mehr allein als zu Hause. Um acht Uhr versammelten sich fünfunddreißig ausgewählte Mitglieder der Delegation unter Führung eines Handelsministers und zweier Bürgermeister aus Shanghai und Peking in einem Konferenzraum neben dem Foyer des Hotels. Auf einigen Wänden war das Gesicht Mugabes zu sehen, mit einem Lächeln, von dem Hong nicht sagen konnte, ob es höhnisch oder freundlich war.
     
    Mi t lauter Stimme bat der Staatssekretär des Handelsministers um Aufmerksamkeit. »Wir werden jetzt mit Präsident Mugabe zusammentreffen. Er wird uns in seinem Palast empfangen. Wir gehen der Reihe nach hinein, mit normalem Abstand zwischen Ministern und Bürgermeistern und anderen Delegierten. Wir begrüßen ihn, hören die Nationalhymnen und setzen uns auf vorgeschriebenen Plätzen an einen Tisch. Präsident Mugabe und unser Minister tauschen über Dolmetscher Grußadressen aus, worauf Präsident Mugabe eine kurze Rede halten wird. Was das heißt, wissen wir nicht, da wir zuvor keine Kopie erhalten haben. Zwischen zwanzig Minuten und drei Stunden ist alles möglich. Vorheriger Toilettenbesuch ist zu empfehlen. Danach folgt eine Fragestunde. Diejenigen, die vorbereitete Fragen bekommen haben, melden sich, stellen sich vor, wenn ihnen das Wort erteilt wird, und bleiben stehen, bis Präsident Mu gabe geantwortet hat. Nachfragen sind nicht erlaubt, und andere Delegierte dürfen sich nicht äußern. Nach dem Treffen mit dem Präsidenten fährt der größere Teil der Delegation zu einer Kupfergrube namens Wandlana,

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