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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Gebäude geführt wurde, zum Gefängnisdirektor Ha Nin, dessen Büro sich im obersten Stockwerk befand.
     
    Sie hatte ihn lange nicht gesehen und war erstaunt, wie sehr er gealtert war. »Ha Nin«, sagte sie und streckte beide Hände aus. »So viele Jahre sind inzwischen vergangen.« Er nahm ihre Hände und drückte sie fest. »Hong Qiu. Ich sehe Grau in deinem Haar, und du siehst Grau in meinem. Erinnerst du dich an unsere letzte Begegnung?«
     
    »Als Deng seine Rede über die Notwendigkeit der Rationalisierung unserer Industrie hielt.«
     
    »Die Zeit vergeht schnell.«
     
    »Je älter man wird, umso schneller. Ich glaube, der Tod holt uns mit atemberaubender Geschwindigkeit ein, so schnell, dass wir es vielleicht gar nicht spüren.« »Wie eine entsicherte Granate? Der Tod explodiert in unserem Gesicht?«
     
    Hong zog ihre Hände zurück. »Wie der Flug der Kugel aus dem Gewehrlauf. Ich bin gekommen, um mit dir über Shen Wixan zu sprechen.«
     
    Ha Nin schien nicht erstaunt zu sein. Sie verstand, dass er sie auch deshalb hatte warten lassen, um herauszubekommen, was sie wollte. Es gab nur eine Möglichkeit, es musste um den Verurteilten gehen. Vielleicht hatte Ha Nin auch mit jemandem im Innenministerium gesprochen, um zu hören, wie er sich zu Hong verhalten sollte.
     
    Sie setzten sich an einen kleinen Konferenztisch. Ha Nin zündete sich eine Zigarette an. Hong kam direkt zur Sache. Sie wollte Shen besuchen, Abschied nehmen, fragen, ob sie etwas für ihn tun könne.
     
    »Es ist sehr merkwürdig«, sagte Ha Nin. »Shen kennt deinen Bruder. Er hat Ya Ru angefleht, ihm das Leben zu retten. Aber Ya weigert sich, mit ihm zu sprechen, er hält die Todesstrafe für gerecht. Und jetzt kommst du, Ya Rus Schwester.« 
    »Ein Mann, der den Tod verdient, verdient nicht notwendigerweise, dass man ihm nicht einen letzten Gefallen tut oder seinen letzten Worten zuhört.«
     
    »Ich habe die Erlaubnis, dich zu ihm zu lassen. Wenn er es will.«
     
    »Will er es?«
     
    »Ich weiß nicht. Der Gefängnisarzt ist gerade in seiner Zelle und spricht mit ihm.«
     
    Hong nickte und wandte sich von Ha Nin ab, als Zeichen, dass sie das Gespräch nicht fortzusetzen wünschte. Es dauerte wieder dreißig Minuten, bis Ha Nin in sein Vorzimmer gerufen wurde. Als er zurückkam, teilte er Hong mit, dass Shen bereit sei, sie zu empfangen.
     
    Sie gingen wieder in das Labyrinth und blieben in einem Korridor stehen, wo Shen und die anderen zum Tode Verurteilten in zwölf Zellen nebeneinander eingesperrt waren. »Wie viele?« fragte Hong leise.
     
    »Neun. Zwei Frauen und sieben Männer. Shen ist der schlimmste von ihnen, der größte Bandit. Die Frauen hatten mit Prostitution zu tun, die Männer mit Raubmord und Drogenschmuggel. Alles unverbesserliche Individuen, die unsere Gesellschaft nicht braucht.«
     
    Hong war unwohl zumute, als sie durch den Korridor ging. Sie ahnte stöhnende Menschen, die mit wiegendem Oberkörper auf ihren Betten saßen oder apathisch ausgestreckt lagen. Gibt es etwas Schrecklicheres für einen Menschen, dachte sie, als zu wissen, dass man gleich sterben wird? Die Zeit ist bemessen, es gibt keine Flucht, nur das Lot, das sich senkt, den Tod, der sich bereitmacht.
     
    Shen saß in einer Zelle ganz hinten am Ende des Korridors. Während er früher dichtes schwarzes Haar gehabt hatte, war er jetzt bis auf die Kopfhaut kahl geschoren. Er trug einen blauen Sträflingsanzug, die Hose war zu groß, die Jacke zu klein. Ha Nin zog sich zurück und ließ die Tür der Zelle von einem Wärter öffnen. Als Hong eintrat, spürte sie, dass der kleine Raum von Angst und Entsetzen erfüllt war. Shen ergriff ihre Hand und fiel auf die Knie. »Ich will nicht sterben«, jammerte er.
     
    Hong half ihm aufs Bett, wo eine Matratze und eine Wolldecke lagen. Sie zog einen Hocker heran und setzte sich vor ihn. »Du musst stark sein«, sagte sie. »Denn daran wird man sich erinnern. Dass du in Würde gestorben bist. Das bist du deiner Familie schuldig. Aber retten kann dich keiner. Ich nicht, und auch kein anderer.«
     
    Shen sah sie mit aufgerissenen Augen an. »Ich habe nichts getan, was alle anderen nicht auch getan haben.«
     
    »Nicht alle. Aber viele. Du musst dazu stehen, was du getan hast, und darfst dich nicht noch mit Lügen demütigen.« »Und warum muss ich dann sterben?«
     
    »Es hätte auch ein anderer sein können. Aber jetzt bist du es. Letzten Endes wird dieses Schicksal alle Unverbesserlichen

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