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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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treffen.«
     
    Shen sah auf seine zitternden Finger und schüttelte den Kopf. »Niemand will mit mir sprechen. Nicht nur, dass ich sterben muss, ich bin auch ganz allein in der Welt. Nicht einmal meine Familie kommt und spricht mit mir. Es ist, als wäre ich schon tot.«
     
    »Und Ya Ru ist auch nicht gekommen.«
     
    »Ich verstehe es nicht.«
     
    »Eigentlich bin ich seinetwegen hier.«
     
    »Ich will ihm nicht helfen.«
     
    »Du verstehst mich falsch. Ya Ru braucht keine Hilfe. Er kommt nicht und leugnet, jemals mit dir zu tun gehabt zu haben. Dein Schicksal ist auch, dass du von allen schlechtgemacht wirst. Ya Ru ist da keine Ausnahme.«
     
    »Ist das wahr?«
     
    »Es ist so, wie ich sage. Ich kann nur eines für dich tun. Ich kann dir helfen, dich zu rächen, indem du mir von deiner Zusammenarbeit mit Ya Ru erzählst.«
     
    »Aber er ist doch dein Bruder?«
     
    »Die Familienbande sind längst zerschnitten. Ya Ru ist gefährlich für dieses Land. Die Grundlage der chinesischen Gesellschaft ist individuelle Ehrenhaftigkeit. Der Sozialismus kann nicht funktionieren und sich entwickeln, wenn es keinen bürgerlichen Anstand gibt. Menschen wie du und Ya Ru korrumpieren nicht nur sich selbst, sondern die ganze Gesellschaft.«
     
    Shen verstand schließlich, was Hong mit ihrem Besuch bezweckte. Es schien ihm Kraft zu geben und dämpfte für einen Moment sein Entsetzen. Hong wusste, dass er jeden Augenblick in die Todesangst zurückfallen konnte, die ihn dann so lähmen würde, dass er nicht mehr auf ihre Fragen antworten konnte. Deshalb drängte sie ihn, trieb ihn vor sich her, als wäre er wieder im Polizeiverhör.
     
    »Du sitzt in einer Gefängniszelle und wartest auf den Tod, Ya Ru sitzt in seinem Büro in dem Hochhaus, das er den ›Berg des Drachens‹ nennt. Ist das in Ordnung?« 
    »Er könnte hier an meiner Stelle sitzen.« 
    »Es sind Gerüchte über ihn im Umlauf. Aber Ya Ru ist geschickt. Es gibt keine Fußspuren, wo er gegangen ist.« 
    Shen beugte sich zu ihr vor und senkte die Stimme. »Folge der Spur des Geldes.« 
    »Wohin führt sie?«
     
    »Zu denen, die ihm große Geldbeträge geliehen haben, damit er seine Drachenburg bauen kann. Woher sollte er all die Millionen haben, die dafür notwendig waren?«
     
    »Aus den Firmen, in die er investiert hat.«
     
    »Aus den jämmerlichen Fabriken, die Plastikenten herstellen, mit denen die Kinder im Westen in ihren Badewannen spielen? Hinterhofbaracken, wo Schuhe und Hemden genäht werden? Nicht einmal in den Ziegelöfen verdient er so viel.« Hong runzelte die Stirn. »Ist Ya Ru an Fabriken beteiligt, die Ziegel herstellen? Wir haben gerade erfahren, dass man die Menschen dort wie Sklaven hält und sie zur Strafe versengt, wenn sie nicht hart genug arbeiten.«
     
    »Ya Ru ist gewarnt worden, dass etwas passieren würde. Er hat seine Beteiligungen abgewickelt, bevor die Polizei die großen Razzien durchführte. Das ist seine Stärke. Er wird immer gewarnt. Er hat überall Spione.«
     
    Shen presste seine Hände hart auf den Bauch, als hätte er plötzlich heftige Schmerzen. Hong sah die Angst in seinem Gesicht und war nahe daran, ein Gefühl von Mitleid zu verspüren. Er war nur neunundfünfzig Jahre alt, hatte eine glänzende Karriere hinter sich und sollte jetzt alles verlieren. Nicht nur sein Geld, sein gutes Leben, die Oase, die er für sich und seine Familie inmitten der großen Armut errichtet hatte. Als man Shen verhaftet und unter Anklage gestellt hatte, waren die Zeitungen voll gewesen von empörenden und zugleich lustvollen Einzelheiten. Zum Beispiel der, dass seine beiden Töchter regelmäßig nach Tokio oder Los Angeles flogen, um sich Kleider zu kaufen. Hong erinnerte sich an eine Kolumne, die gewiss vom Sicherheitsdienst und dem Innenministerium verfasst worden war. »Sie kaufen sich Kleider von den Ersparnissen der armen Schweinebauern.« Die Kolumne war ständig wiederholt worden. Man hatte Leserbriefe veröffentlicht, die natürlich ebenfalls von der Zeitung geschrieben und von Gefolgsleuten kontrolliert worden waren, die auf höherer Ebene für die politischen Auswirkungen des Verfahrens gegen Shen verantwortlich waren. Die Einsender hatten vorgeschlagen, Shens Körper zu zerstückeln und den Schweinen vorzuwerfen. Die einzig angemessene Strafe für Shen sei, zu Schweinefutter gemacht zu werden. »Ich kann dich nicht retten«, wiederholte Hong. »Aber ich kann dir die Möglichkeit verschaffen, andere im Sturz mit dir zu

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