Der Chinese
das Alleinsein vor. Nachtfalter tanzten um die Lampe über ihrem Tisch. Nach dem Essen saß sie eine Weile an der Bar am Schwimmbecken und trank eine Tasse Tee. Einige chinesische Delegierte waren betrunken und versuchten, sich an die schönen jungen Serviermädchen heranzumachen, die zwischen den Tischen umherliefen. Hong war empört und verließ die Bar. In einem anderen China wäre das nicht möglich gewesen, dachte sie wütend. Da hätten sofort Sicherheitskräfte eingegriffen. Wer betrunken oder angetrunken war, hätte China nie wieder repräsentieren dürfen. Vielleicht wären sie auch zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. Nicht wie jetzt, jetzt greift niemand ein.
Sie setzte sich auf ihre Veranda und dachte über die Arroganz nach, die mit dem neuen Glauben einherging, ein liberaleres kapitalistisches Marktsystem werde der Entwicklung nützen. Dengs Absicht war es gewesen, die chinesischen Räder schneller kreisen zu lassen. Heute war die Situation anders. Wir stehen in der Gefahr der Überhitzung, nicht nur in der Industrie, sondern auch in unseren eigenen Gehirnen. Wir sehen den Preis nicht, den wir bezahlen, in Form vergifteter Flüsse, stickiger Luft und in Form von Millionen von Menschen, die auf verzweifelter Landflucht sind.
Früher sind wir in das Land gekommen, das damals Rhodesien hieß, um den Befreiungskampf zu unterstützen. Jetzt, Jahrzehnte nach der Befreiung, kommen wir als schlecht verkleidete Kolonisatoren. Mein Bruder ist einer von denen, die unsere alten Ideale über Bord werfen. Er hat nichts von dem würdigen Glauben an die Kraft und das Wohlergehen des Volkes, der unser eigenes Land einst befreit hat.
Hong schloss die Augen und lauschte auf die Geräusche der Nacht. Langsam wichen die Gedanken an Ma Li und ihr Gespräch aus ihrem müden Kopf.
Sie war fast eingeschlafen, als ein Geräusch das Zirpen der Zikaden unterbrach. Es war ein Zweig, der geknickt wurde. Sie öffnete die Augen und setzte sich in ihrem Stuhl auf. Die Zikaden waren verstummt. Plötzlich wusste sie, dass jemand in der Nähe war.
Sie lief in ihren Bungalow und verschlOss die Glastür. Drinnen brannte eine Lampe, die sie ausschaltete.
Ihr Herz schlug wild. Sie hatte Angst.
Dort draußen im Dunkel war jemand gewesen. Jemand, der unabsichtlich einen Zweig mit dem Fuß geknickt hatte. Sie ließ sich auf das Bett sinken und fürchtete, dass jemand hereinkommen würde.
Aber niemand tauchte aus dem Dunkel auf. Nachdem sie fast eine Stunde gewartet hatte, zog sie die Gardinen zu, setzte sich an den Schreibtisch und schrieb den Brief, der im Laufe des Tages in ihrem Kopf Gestalt angenommen hatte. Hong brauchte mehrere Stunden, um den Bericht über die Ereignisse der letzten Zeit zu schreiben, beginnend mit ihrem Bruder und den merkwürdigen Informationen, die ihr die schwedische Richterin Birgitta Roslin mitgeteilt hatte. Sie schrieb ihn, um sich selbst zu schützen, während sie gleichzeitig ein für alle Mal feststellte, dass ihr Bruder korrupt war und zu denen gehörte, die sich anschickten, die Kontrolle über China zu übernehmen. Außerdem war es möglich, dass er und sein Leibwächter Liu Xin in brutale Morde weit jenseits der Grenzen Chinas verwickelt waren. Sie hatte die Klimaanlage abgeschaltet, um Geräusche von draußen besser hören zu können. In dem schwülen Raum schwirrten Nachtinsekten um die Lampe, und schwere Schweißtropfen fielen auf den Schreibtisch. Sie dachte daran, dass sie allen Grund zur Besorgnis hatte. Sie hatte lange genug gelebt, um eingebildete und wirkliche Gefahren zu unterscheiden.
Ya Ru war ihr Bruder, aber auch ein Mann, der nicht zögerte, alle Mittel anzuwenden, um seine Ziele zu erreichen. Sie stellte sich nicht gegen eine Entwicklung, die neuen Fahrplänen folgte. Denn so, wie sich die Welt ringsumher veränderte, mussten auch die Führer Chinas neue Strategien finden, um die Probleme der Gegenwart und der Zukunft zu lösen. Aber fragwürdig war für Hong und für viele mit ihr, dass die Entwicklung zu einer marktorientierten offenen Wirtschaft nicht mit den sozialistischen Grundlagen kombiniert wurde. Gab es keine Alternative? Sie konnte es nicht so sehen. Ein mächtiges Land wie China brauchte seine Seele nicht auf der Jagd nach Öl und Rohstoffen und neuen Märkten, auf denen es seine Industrieproduktion absetzen konnte, zu verkaufen. Bestand die große Aufgabe nicht darin, der Welt zu beweisen, dass aus der Weiterentwicklung des Landes
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