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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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dass ich nicht allein bin. Ich schäme mich nicht, zu behaupten, dass Baoxian yundong das ist, was unser Land vor Zersplitterung und Verfall bewahren kann.«
     
    »Die Kampagne, um der Kommunistischen Partei das Recht auf Führung zu erhalten«, sagte Hong. »Ich bin deiner Meinung. Aber wir beide wissen, dass die Gefahr von innen droht. Früher war Maos Ehefrau der Maulwurf der neuen Oberklasse, obwohl sie mehr als alle anderen mit der roten Fahne wedelte. Heute gibt es andere, die sich in der Partei verstecken, aber nichts lieber wollen, als gegen sie zu arbeiten und die Stabilität im Lande durch eine kapitalistische Freiheit zu ersetzen, die irgendwann nicht mehr zu kontrollieren ist.«
     
    »Mit der Stabilität ist es schon vorbei«, sagte Ma Li. »Ich bin Analytikerin und weiß, welche Geldströme sich in unserem Land bewegen. Deshalb weiß ich auch vieles, was weder du noch andere wissen können. Aber ich darf natürlich nichts sagen.«
     
    »Wir sind allein. Der Löwe lauscht nicht.«
     
    Ma Li sah sie prüfend an. Hong wusste genau, was sie dachte: Kann ich ihr vertrauen oder nicht?
     
    »Sage nichts, wenn du Zweifel hast«, sagte Hong. »Entscheidet man sich falsch, ob man jemandem trauen darf oder nicht, ist man schutzlos und ausgeliefert. Das hat uns schon Konfuzius gelehrt.«
     
    »Ich vertraue dir«, sagte Ma Li. »Trotzdem lässt es sich nicht vermeiden, dass die üblichen Schutzinstinkte zur Vorsicht mahnen.«
     
    Hong zeigte auf das Flussufer. »Der Löwe ist jetzt weg. Wir haben nicht bemerkt, wie er verschwunden ist.«
     
    Ma Li nickte.
     
    »Für dieses Jahr hat die Regierung eine Erhöhung der Militärausgaben um beinahe fünfzehn Prozent vorgesehen«, fuhr Hong fort. »Wenn man bedenkt, dass China eigentlich keine Feinde in seiner Nähe hat, müssen sich das Pentagon und der Kreml natürlich über diese Aufrüstung wundern. Ihre Analytiker verstehen ohne weiteres, dass der Staat und das Militär sich auf eine innere Bedrohung vorbereiten. Außerdem wenden wir fast zehn Milliarden Yuan für die Internetüberwachung auf. Solche Zahlen kann man unmöglich verheimlichen. Aber es gibt andere Statistiken, die nur sehr wenige kennen. Was glaubst du, wie viele Tumulte und Massenproteste es im vorigen Jahr in unserem Land gegeben hat?«
     
    Ma Li überlegte: »Vielleicht fünftausend?«
     
    Hong schüttelte den Kopf. »Fast neunzigtausend. Rechne dir aus, wie viele das pro Tag sind. Das ist eine Zahl, die wie ein Schatten über allem liegt, was das Politbüro unternimmt. Was Deng vor fünfzehn Jahren tat, nämlich die Wirtschaft zu liberalisieren, hat die Unruhe im Lande damals weitgehend dämpfen können. Heute reicht es nicht mehr aus. Vor allem nicht, wenn es in den Städten keinen Platz und keine Arbeit mehr gibt für die hundert Millionen armer Bauern, die ungeduldig auf ihren Anteil an dem guten Leben warten, von dem alle träumen.«
     
    »Was wird geschehen?«
     
    »Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Der Kluge ist beunruhigt und macht sich Gedanken. Innerhalb der Partei findet ein Machtkampf statt, der ernster ist als alle, die es je gegeben hat, selbst zu Maos Zeit. Niemand weiß, wie er ausgeht. Das Militär fürchtet ein Chaos, das sich nicht kontrollieren lässt. Du und ich, wir wissen, was zu tun ist. Das Einzige, was wir tun können, das Einzige, was wir tun müssen, ist, dass wir die Grundlagen von früher wiederherstellen.«
     
    »Baoxian yundong.«
     
    »Der einzige Weg. Unser einziger Weg. Es gibt keine Abkürzung in die Zukunft.«
     
    Eine Elefantenherde näherte sich dem Fluss, um zu trinken. Als eine Gesellschaft von westlichen Touristen auf die Veranda strömte, kehrten die beiden Frauen ins Foyer des Hotels zurück. Hong hatte ein gemeinsames Essen vorschlagen wollen, aber Ma Li kam ihr zuvor und erklärte, dass sie am Abend keine Zeit habe.
     
    »Wir sind vierzehn Tage hier«, sagte Ma Li. »Wir haben Zeit, über alles zu reden, was geschehen ist.« »Über alles, was geschieht und geschehen wird«, sagte Hong. »Über alles, auf das wir noch keine Antwort haben.«
     
    Hong sah Ma Li auf der anderen Seite des großen Schwimmbeckens verschwinden. Morgen rede ich mit ihr, dachte sie. In dem Moment, als ich einen Menschen besonders dringend brauchte, läuft mir eine meiner ältesten Freundinnen über den Weg.
     
    Hong aß an diesem Abend allein. Eine größere Gesellschaft aus der chinesischen Delegation hatte sich an zwei Langtischen versammelt. Aber Hong zog

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