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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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tun, dass sie verstehen wollte, wie die Engländer funktionieren, indem sie ihren Nationalsport studierte. Hong war ein sehr eigensinniger Mensch.«
     
    Ho sah auf ihre Armbanduhr. »Ich muss heute Nachmittag noch von Kopenhagen nach London zurückfliegen.« Birgitta Roslin zögerte noch, stellte dann aber doch die Frage, die langsam in ihr gereift war. »Sie waren nicht eventuell in der vorvorigen Nacht in meinem Haus? In meinem Büro?«
     
    Ho schien die Frage nicht zu begreifen. Birgitta Roslin wiederholte sie.
     
    Ho schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich habe im Hotel gewohnt. Warum sollte ich in Ihr Haus eindringen wie ein Dieb?«
     
    »Ich frage mich nur. Ich bin von einem Geräusch aufgewacht. «
     
    »Aber war jemand da?«
     
    »Ich weiß es nicht.«
     
    »Fehlt etwas?«
     
    »Ich fand, dass meine Papiere in Unordnung waren.« »Nein«, sagte Ho. »Ich bin nicht da gewesen.«
     
    »Und Sie sind allein hier?«
     
    »Niemand weiß, dass ich nach Schweden gefahren bin. Nicht einmal mein Mann und meine Kinder. Sie glauben, ich sei in Brüssel, wohin ich oft fahre.«
     
    Ho nahm eine Visitenkarte aus der Tasche und legte sie vor Birgitta Roslin. Darauf standen ihr vollständiger Name, Ho Meiwan, ihre Adresse und verschiedene Telefonnummern. »Wo liegt Ihre Wohnung?«
     
    »In Chinatown. Im Sommer kann es nächtelang auf den Straßen sehr laut sein. Aber ich will trotzdem dort bleiben. Es ist ein kleines China mitten in London.«
     
    Birgitta Roslin steckte die Visitenkarte ein. Sie folgte Ho zum Bahnhof und sorgte dafür, dass sie in den richtigen Zug stieg.
     
    »Mein Mann ist Zugschaffner«, sagte sie. »Was macht Ihr Mann?« »Er ist Kellner. Auch deshalb wohnen wir in Chinatown. Er bedient in dem Restaurant im Erdgeschoss.« Birgitta Roslin sah den Zug nach Kopenhagen im Tunnel verschwinden. Sie ging nach Hause, machte sich etwas zu essen und spürte, wie müde sie war. Sie wollte die Nachrichten ansehen, schlief aber vor dem Fernseher ein, als sie sich aufs Sofa gelegt hatte. Das Klingeln des Telefons weckte sie. Es war Staffan, der aus Funchal anrief. Die Verbindung war schlecht. Er musste schreien, um das Rauschen zu übertönen. Sie verstand immerhin, dass alles in Ordnung war und dass sie sich amüsierten. Das Gespräch wurde plötzlich unterbrochen. Sie wartete, dass er wieder anriefe, aber nichts geschah. Sie legte sich wieder aufs Sofa.
     
    Dass Hong tot war, erschien ihr so unwirklich, dass sie Mühe hatte, es zu glauben. Aber schon als Ho erzählte, was geschehen war, hatte sie das Gefühl nicht loswerden können, dass irgendetwas nicht stimmte.
     
    Sie begann zu bereuen, dass sie Ho nicht mehr Fragen gestellt hatte. Aber nach dem komplizierten Prozess war sie zu erschöpft gewesen, hatte es einfach nicht geschafft. Und jetzt war es zu spät. Ho war auf dem Rückweg in ihr englisches Chinatown.
     
    Birgitta Roslin zündete eine Kerze für Hong an und suchte im Bücherregal zwischen Landkarten und Stadtplänen, bis sie einen Plan von London fand. Das Restaurant lag in unmittelbarer Nähe des Leicester Square. Einmal hatte sie mit Staffan in dem kleinen Park dort gesessen und die Menschen betrachtet. Es war im Spätherbst gewesen, sie hatten die Reise vom einen auf den anderen Tag gemacht, ohne sich vorzubereiten. Später hatten sie über diese Reise noch viel gesprochen, eine eigenartige und kostbare Erinnerung.
     
    Sie ging früh zu Bett, weil sie auch am nächsten Tag im Gericht sein musste. Der Fall der Frau, die ihre Mutter misshandelt hatte, war nicht so kompliziert wie ihr letzter mit den vier Vietnamesen. Aber sie konnte sich trotzdem nicht erlauben, müde zu sein, wenn sie sich auf den Richterstuhl setzte. Das ließ ihre Selbstachtung nicht zu. Um sicher zu sein, dass sie nicht wachliegen würde, nahm sie eine halbe Schlaftablette, bevor sie das Licht löschte.
     
    Der Fall am nächsten Tag erwies sich als noch einfacher als erwartet. Die Angeklagte hatte gegenüber ihren früheren Verhören plötzlich ihre Meinung geändert und gestand ohne Umschweife alles, was ihr vom Staatsanwalt zur Last gelegt wurde. Die Verteidigung brachte auch nichts Überraschendes ins Spiel, was die Verhandlung in die Länge gezogen hätte. Schon um Viertel vor vier konnte Birgitta Roslin die Verhandlung beenden und das Datum für die Urteilsverkündung im Juni festlegen.
     
    Als sie wieder in ihr Arbeitszimmer kam, nahm sie den Telefonhörer ab und wählte die Nummer der Polizei in

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