Der Chinese
Hudiksvall, ohne es vorher geplant zu haben. Sie meinte die Stimme der jungen Frau an der Vermittlung zu erkennen. Sie klang weniger nervös als an jenem Wintertag, an dem Birgitta Roslin sie zuletzt angerufen hatte.
»Ich möchte gern mit Vivi Sundberg sprechen. Wenn sie da ist.« »Ich habe sie gerade vorbeigehen sehen. Wen darf ich melden?«
»Die Richterin aus Helsingborg. Das reicht.«
Vivi Sundberg meldete sich fast sofort. »Birgitta Roslin. Lange nichts gehört von Ihnen.«
»Ich hatte plötzlich den Impuls anzurufen.«
»Neue Chinesen? Neue Theorien?«
Birgitta Roslin nahm die Ironie in Vivi Sundbergs Stimme wahr und hätte beinahe geantwortet, dass sie jede Menge neue Chinesen aus dem Hut zaubern könne. Aber sie entschuldigte sich für ihren Anruf nur damit, dass sie neugierig sei.
»Wir glauben immer noch, dass es der Mann war, dem es leider gelungen ist, sich das Leben zu nehmen. Auch wenn er tot ist, wird die Ermittlung weitergeführt. Wir können den Toten nicht verurteilen, aber denen, die leben, können wir eine Erklärung geben für das, was geschehen ist und warum es geschehen ist.«
»Wird es Ihnen gelingen?«
»Es ist zu früh, darauf zu antworten.«
»Neue Spuren?«
»Darüber kann ich mich nicht äußern.«
»Keine anderen Verdächtigen? Keine anderen denkbaren Erklärungen?«
»Darüber kann ich auch nichts sagen. Wir befinden uns immer noch in einer schwierigen Ermittlung mit zahlreichen komplizierten Details.«
»Aber Sie glauben, dass es der Mann war, den Sie festgenommen haben? Und dass er wirklich ein Motiv hatte, neunzehn Menschen zu töten?«
»Es sieht so aus. So viel kann ich Ihnen vielleicht sagen, dass wir jede erdenkliche Hilfe von Experten in Anspruch genommen haben. Kriminologen, Profilersteller, Psychologen und nicht zuletzt die erfahrensten Kriminalbeamten und Techniker, die wir hierzulande haben. Professor Persson stellt sich natürlich äußerst zweifelnd. Wann tut er das nicht? Aber kein anderer hat uns oder dem Staatsanwalt am Zeug zu flicken versucht. Und es liegt noch immer ein weiter Weg vor uns.«
»Der Junge«, sagte Birgitta Roslin. »Der starb, aber überhaupt nicht dahin gehörte. Wie erklären Sie das?« »Wir haben dafür an sich keine Erklärung. Aber wir haben natürlich ein Bild davon, wie alles zugegangen sein muss.« »Eins frage ich mich«, fuhr Birgitta Roslin fort. »Gab es einen unter den Toten, der wichtiger zu sein schien als die anderen Mordopfer?«
»Wie meinen Sie das?«
»Jemand, der besonders brutal behandelt wurde. Oder vielleicht der, der zuerst getötet wurde? Vielleicht auch zuletzt?«
»Das sind Fragen, auf die ich nicht antworten kann.« »Sagen Sie nur, ob meine Fragen für Sie überraschend kommen.« »Nein.« »Haben Sie eine Erklärung für das rote Band gefunden?« »Nein.« »Ich bin in China gewesen«, sagte Birgitta Roslin. »Ich
habe die Chinesische Mauer besucht. Und ich bin überfallen worden und habe einen ganzen Tag mit äußerst gestrengen Polizisten verbracht.«
»Sind Sie verletzt worden?«
»Nein, ich hatte nur Angst. Aber die gestohlene Tasche habe ich zurückbekommen.« »Dann hatten Sie vielleicht trotz allem Glück?« »Ja«, sagte Birgitta Roslin. »Ich hatte Glück. Vielen
Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«
Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, blieb sie noch eine Weile in ihrem Büro sitzen. Sie zweifelte nicht daran, dass die hinzugerufenen Spezialisten reagiert hätten, wenn sie Anzeichen dafür gefunden hätten, dass die Ermittlung in eine Sackgasse geraten war.
Am Abend machte sie einen langen Spaziergang und verbrachte anschließend einige Stunden damit, neu erschienene Weinbroschüren über frisch eingetroffene Weine durchzublättern. Sie notierte sich einige Rotweine aus Italien, die sie bestellen wollte, und sah anschließend im Fernsehen einen alten Film, den Staffan und sie in ihrer frühen Zeit gesehen hatten. Jane Fonda spielte eine Prostituierte, die Farben waren blass und verwässert, die Story war bizarr, und sie lachte über die verrückten Kleider, besonders über die hohen und vulgären Plateausohlen, wie sie die Mode damals vorgeschrieben hatte.
Sie war fast eingeschlafen, als das Telefon klingelte. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte Viertel vor zwölf. Das Klingeln hörte auf. Staffan oder eins der Kinder hätten sie auf dem Handy angerufen. Sie machte das
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