Der Chinese
Jahren ihre enge Freundin war. Sie beschrieb den bedauerlichen Überfall und die genaue polizeiliche Ermittlung.«
»Hat sie es wirklich so gesagt?«
»Ich zitiere den Brief. Wort für Wort. Außerdem hat Hong von einer Fotografie gesprochen, die Sie ihr gezeigt haben sollen.«
Birgitta Roslin fuhr zusammen. »Ist das wahr? Einer Fotografie? Hat sie noch mehr gesagt?« »Ein chinesischer Mann, von dem Sie glaubten, er habe etwas mit Ereignissen hier in Schweden zu tun.«
»Was hat sie über den Mann gesagt?«
»Hong war besorgt. Sie hatte etwas entdeckt.«
»Was?«
»Das weiß ich nicht.«
Birgitta Roslin saß schweigend da. Sie versuchte, die Mit teilung von Hong zu deuten. Es konnte nur ein Warnruf aus dem Schweigen sein. Hatte Hong den Verdacht, dass ihr etwas zustoßen würde? Oder wusste sie, dass Birgitta in Gefahr war? Hatte Hong herausgefunden, wer der Mann auf dem Foto war? Warum erzählte sie es dann nicht?
Birgitta Roslin spürte, wie ihr Unbehagen wuchs. Ho sah sie schweigend an, abwartend. »Ich habe noch eine Frage, die Sie mir beantworten müssen. Wer sind Sie?«
»Ich lebe seit Anfang der 1990er Jahre in London. Zuerst kam ich als Botschaftssekretärin dorthin. Später wurde ich zur Chefin der Englisch-Chinesischen Handelskammer ernannt. Heute arbeite ich als selbständige Beraterin für chinesische Unternehmen, die sich in England etablieren wollen. Aber nicht nur dort. Ich bin auch mit der Errichtung eines großen Ausstellungskomplexes in der Nähe einer schwedischen Stadt mit Namen Kalmar befasst. Meine Arbeit führt mich durch ganz Europa.«
»Und woher kennen Sie Hong?«
Die Antwort überraschte Birgitta Roslin nicht.
»Wir sind verwandt. Cousinen. Wir kennen uns seit unserer Jugend. Auch wenn Hong zehn Jahre älter war als ich.« Birgitta Roslin dachte daran, dass Hong gesagt hatte, sie und Birgitta seien seit langer Zeit Freunde. Darin lag eine Botschaft. Birgitta Roslin konnte es nur so verstehen, dass ihre kurze Freundschaft in die Tiefe gegangen war. Große Vertraulichkeit war möglich. Oder sogar notwendig?
»Was stand in dem Brief? Über mich?«
»Hong wollte, dass Sie so schnell wie möglich unterrichtet würden.« »Und weiter?« »Wie ich schon gesagt habe. Sie sollten wissen, dass es mich gibt, wo es mich gibt, falls etwas passiert.«
»Da reißen alle Fäden. Was könnte denn passieren?« »Ich weiß es nicht.«
Etwas in Hos Tonfall ließ Birgitta Roslin aufhorchen. Bisher war Ho aufrichtig gewesen. Aber hier wich sie aus. Sie weiß mehr, als sie sagt, dachte Birgitta.
»China ist ein großes Land«, sagte sie. »Für einen westlichen Betrachter liegt es nahe, die Ausmaße des Landes damit zu verwechseln, dass es geheimnisvoll ist. Der Mangel an Kenntnis verwandelt sich ins Mystische. Mir geht es sicher nicht anders. So habe ich auch Hong erlebt. Was sie auch zu mir sagte, ich verstand nie ganz, was sie meinte.« »China ist nicht geheimnisvoller als irgendein anderes Land in der Welt. Es ist ein westlicher Mythos, dass unser Land unbegreiflich ist. Die Europäer haben nie akzeptiert, dass sie nicht verstehen, wie wir denken. Auch nicht, dass wir so viele entscheidende Entdeckungen und Erfindungen gemacht haben, bevor sie das gleiche Wissen eroberten. Das Schießpulver, den Kompass, die Buchdruckerei, alles ist in seinem Ursprung chinesisch. Nicht einmal in der Kunst der Zeitmessung waren die Europäer die Ersten. Tausend Jahre bevor sie mechanische Uhren herzustellen begannen, hatten wir Wasseruhren und Stundengläser. Das können sie uns nie verzeihen. Deshalb nennen sie uns unbegreiflich und geheimnisvoll.«
»Wann haben Sie Hong zuletzt getroffen?«
»Vor vier Jahren. Sie war in London. Wir verbrachten einige Abende zusammen. Sie wollte lange Spaziergänge auf Hampstead Heath machen und mich darüber ausfragen, wie die Engländer die Entwicklung in China beurteilten. Ihre Fragen waren eindringlich, und sie wurde ungeduldig, wenn meine Antworten nicht klar waren. Außerdem wollte sie Kricketspiele ansehen.«
»Wieso das?« »Das hat sie nie gesagt. Hong hatte einige überraschende Interessen.«
»Ich interessiere mich nicht besonders für Sport. Aber Kricket ist mir immer total unbegreiflich vorgekommen, und ich konnte nie erkennen, warum die eine oder die andere Mannschaft gewinnt oder verliert.«
»Ich glaube, ihre kindliche Begeisterung für Kricket hatte damit zu
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