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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Etwas an ihr machte Birgitta Roslin unsicher. In einer Verhandlungspause rief sie einen Gerichtsdiener zu sich und bat ihn nachzusehen, ob die Frau auch außerhalb des Gerichtssaals für sich blieb. Kurz vor Wiederbeginn der Verhandlung kam er zurück und teilte ihr mit, dass dies der Fall war. Die Frau hatte mit niemandem gesprochen.
     
    »Behalten Sie sie im Auge«, sagte Birgitta Roslin. »Ich kann ihr den Zutritt verweigern, wenn Sie das wünschen.« 
    »Dazu habe ich keinen Grund.« 
    »Aber Sie sind beunruhigt.« 
    »Ich bitte Sie nur, sie im Auge zu behalten. Sonst nichts.« 
    Obwohl Birgitta Roslin bis zuletzt ihre Zweifel hatte, gelang es ihr, die Verhandlung am späten Nachmittag zum Abschluss zu bringen. Sie gab bekannt, dass die Urteilsverkündung am 20. Juni stattfinden würde, und beendete die Verhandlung. Das Letzte, was sie beim Verlassen des Saales sah, nachdem sie ihren Beisitzern gedankt hatte, war die vietnamesische Frau, die sich umdrehte und ihr nachsah, als sie aus der Tür ging.
     
    Hans Mattsson kam in ihr Büro, als das Ganze vorüber war. Er hatte über das interne Lautsprechersystem die abschließenden Plädoyers des Staatsanwalts und des Verteidigers mit angehört. »Palm hat ein paar gute Tage gehabt.« »Die Frage ist nur, wie die Strafe bemessen werden soll. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Brüder Tran die Rädelsführer sind. Die beiden anderen sind natürlich mitschuldig. Aber sie scheinen vor den Brüdern Angst zu haben. Ich habe stark den Eindruck, dass sie mehr Schuld auf sich nehmen, als sie eigentlich haben.«
     
    »Melde dich, wenn du etwas mit mir besprechen willst.« Birgitta Roslin sammelte ihre Aufzeichnungen ein und machte sich fertig, um nach Hause zu gehen. Staffan hatte ihr eine SMS geschickt, dass es ihnen allen gutging. Als sie das Zimmer verlassen wollte, läutete ihr Telefon. Sie zögerte, griff dann aber doch zum Hörer.
     
    »Ich bin es.«
     
    Sie kannte die Männerstimme, konnte sie aber nicht gleich einordnen. 
    »Wer ich?« 
    »Nordin. Der Gerichtsdiener.« 
    »Entschuldigung. Ich bin müde.« 
    »Ich wollte Ihnen nur Bescheid sagen, dass Sie Besuch haben.«
     
    »Von wem?«
     
    »Von der Frau, auf die Sie mich zu achten baten.« 
    »Ist sie noch da? Was will sie?«
     
    »Das weiß ich nicht.«
     
    »Wenn sie mit einem der Angeklagten verwandt ist, darf ich nicht mit ihr sprechen.« 
    »Ich glaube, Sie irren sich.« Birgitta Roslin wurde langsam ungeduldig. 
    »Was meinen Sie? Ich kann nicht mit ihr sprechen.«
     
    »Ich meine nur, dass sie nicht aus Vietnam kommt. Sie spricht ausgezeichnet Englisch. Sie ist Chinesin. Und sie will mit Ihnen sprechen. Sie sagt, es sei sehr wichtig.« 
    »Wo ist sie?«
     
    »Sie wartet draußen. Ich kann sie sehen. Sie hat gerade ein Blatt von einer Birke abgeknipst.« »Hat sie einen Namen?« 
    »Bestimmt. Aber sie hat ihn mir nicht gesagt.« 
    »Ich komme. Sie soll warten.« Birgitta Roslin trat ans Fenster. Von dort konnte sie die Frau auf dem Gehsteig sehen.
     
    Ein paar Minuten später ging sie hinaus.
     
    Die Frau hieß Ho und hätte eine jüngere Schwester von Hong sein können. Birgitta Roslin bemerkte sogleich die frappierende Ähnlichkeit, als sie sich ihr näherte; nicht nur die straffe Frisur, sondern auch das würdige Auftreten. Ho hielt noch das Birkenblatt in der Hand, als Birgitta Roslin auf sie zutrat.
     
    Ho stellte sich ihr in ausgezeichnetem Englisch vor, genauso wie Hong es getan hatte. »Ich habe eine Botschaft«, sagte Ho. »Wenn ich Sie nicht störe.«
     
    »Mein Arbeitstag ist zu Ende.«

 
    »Ich habe keins von all den Worten verstanden, die ich gehört habe«, sagte Ho. »Aber ich habe den Respekt bemerkt, der Ihnen entgegengebracht wurde.«
     
    »Vor einigen Monaten habe ich eine Gerichtsverhandlung in China besucht. Auch dort war eine Richterin tätig. Auch ihr wurde großer Respekt erwiesen.«
     
    Birgitta Roslin fragte, ob Ho in ein Cafe oder Restaurant gehen wolle. Aber Ho zeigte nur auf den nahe gelegenen Park und die Parkbänke.
     
    Sie setzten sich. In der Nähe lungerte ein Schwarm Betrunkener herum, ältere Männer, die Birgitta Roslin oft gesehen hatte. Sie hatte eine schwache Erinnerung, einmal einen von ihnen verurteilt zu haben, weswegen, wusste sie nicht mehr. Es waren die ewigen Parkbewohner. Penner in Parks und die einsamen Männer, die auf Friedhöfen Laub harken, sind die Nabe der schwedischen Gesellschaft. Denkt man sich ihre Anwesenheit weg,

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