Der Chinese
Angst vor Ihnen.«
»Das glaube ich nicht. Aber sie wissen, dass ich das Strafmaß festsetze. Bei all den Taten, die sie begangen haben, kann es schon sein, dass sie es mit der Angst bekommen.« Birgitta Roslin schlug vor, zusammen zu Mittag zu essen, aber Ho lehnte ab. Sie hatte etwas anderes zu erledigen. Birgitta Roslin fragte sich, was Ho in einer ihr völlig fremden Stadt wie Helsingborg zu erledigen haben könnte. Langsam, aber zielbewusst trieb Birgitta Roslin den Prozess voran. Als sie die Verhandlung für den Tag beendete, war sie so weit gekommen, wie sie gehofft hatte.
Ho wartete vor dem Amtsgericht. Da Staffan sich in einem Zug nach Göteborg befand, wollte Birgitta Roslin Ho zu sich nach Hause einladen. Sie merkte, dass Ho zögerte. »Ich bin allein zu Hause. Mein Mann ist fort. Meine Kinder wohnen in anderen Städten. Falls Sie Angst haben, jemandem zu begegnen.«
»Das ist es nicht. Aber ich bin nicht allein. San ist bei mir.«
»Wo ist er?«
Ho zeigte auf die andere Straßenseite. San lehnte an einer Hauswand. »Winken Sie ihn her«, sagte Birgitta Roslin. »Dann gehen wir zu mir nach Hause.«
San wirkte jetzt ruhiger als bei ihrer ersten chaotischen Begegnung. Jetzt konnte Birgitta Roslin auch erkennen, dass er seiner Mutter ähnlich war, er hatte Hongs Züge und auch etwas von ihrem Lächeln.
»Wie alt sind Sie?« fragte sie.
»Zweiundzwanzig.«
Sein Englisch war ebenso vollendet wie das von Hong und Ho.
Sie setzten sich ins Wohnzimmer. San bat um Kaffee, während Ho Tee trank. Auf dem Tisch stand das Spiel, das Birgitta Roslin in Peking gekauft hatte. Außer ihrer Handtasche trug Ho noch eine Papiertüte. Daraus zog sie jetzt eine Anzahl Kopien mit handgeschriebenen chinesischen Zeichen. Daneben legte sie einen Block mit einem englischen Text. »Ya Ru hatte eine Wohnung in London. Eine meiner Freundinnen kannte Lang, seine Haushälterin. Sie machte ihm das Essen und umgab ihn mit dem Schweigen, das er verlangte. Sie ließ uns in die Wohnung, und wir fanden ein Tagebuch, aus dem diese Aufzeichnungen stammen. Ich habe einen Teil dessen übersetzt, was er geschrieben hat und woraus das meiste von dem, was geschehen ist, klar wird. Nicht alles, aber doch so viel, dass wir verstehen. Es gab Motive für Ya Ru, die ganz und gar seine eigenen waren, die nur er selbst verstehen konnte.«
»Sie haben erzählt, dass er ein mächtiger Mann war. Das muss bedeuten, dass sein Tod in China viel Aufsehen erregt hat?«
San, der bisher schweigend dagesessen hatte, gab diesmal die Antwort. »Nichts. Kein Aufsehen. Nur das Schweigen, von dem Shakespeare schreibt: ›The rest is silence‹. Ya Ru war so mächtig, dass andere mit ebenso großer Macht vertuschen konnten, was geschehen ist. Es ist, als hätte Ya Ru nie existiert. Wir glauben zu wissen, dass viele froh oder erleichtert waren, als er starb, auch unter denen, die als seine Freunde galten. Ya Ru war gefährlich, er sammelte Informationen und benutzte sie, um seine Gegner oder Menschen, die er als lästige Konkurrenten betrachtete, zu vernichten. Jetzt werden all seine Unternehmen abgewickelt, Menschen werden dafür bezahlt, dass sie schweigen, alles erstarrt und wird zu einer Betonwand, die ihn und sein Schicksal sowohl von der offiziellen Geschichte trennt als auch von uns, die noch leben.« Birgitta Roslin blätterte in den Papieren, die auf dem Tisch lagen. »Soll ich sie jetzt lesen?«
»Nein. Später. Wenn Sie allein sind.«
»Und ich brauche keine Angst zu haben?«
»Nein.«
»Werde ich verstehen, was mit Hong geschah?«
»Er hat sie getötet. Nicht mit eigener Hand, sondern mit der eines anderen Mannes. Den er dann selbst tötete. Der eine Tod verdeckte den anderen. Niemand konnte sich vorstellen, dass Ya Ru seine Schwester getötet hatte. Außer den Scharfsinnigsten, die wussten, wie Ya Ru dachte - von sich selbst und von anderen. Was aber merkwürdig ist und was wir nie verstehen werden, ist, wie er seine Schwester töten konnte und zugleich seine Familie schätzte und seine Ahnen in hohen Ehren hielt. Da ist ein Widerspruch, ein Rätsel, das wir wohl nicht lösen werden. Ya Ru war mächtig. Er war gefürchtet wegen seiner Intelligenz und seiner Rücksichtslosigkeit. Aber vielleicht war er auch krank.«
»Inwiefern?«
»Er trug einen Hass in sich, der ihn zerfraß. Vielleicht war er wirklich wahnsinnig.«
»Eins habe ich mich gefragt. Was taten sie
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