Der Chinese
versucht hätte. Birgitta Roslin blieb stehen und blickte zurück.
Ho zerrte noch einmal an ihrem Arm. »Drehen Sie sich nicht um. Gehen Sie normal. Wir reden später.«
Sie gelangten zu Hos Haus und gingen hinauf in ihre Wohnung im ersten Stock. Dort wartete ein etwa zwanzigjähriger Mann. Er war sehr blass und redete erregt mit Ho. Birgitta Roslin sah, dass Ho versuchte, ihn zu beruhigen. Sie ging mit ihm in ein anliegendes Zimmer, während das erregte Gespräch weitergeführt wurde. Als sie zurückkamen, trug der Mann ein längliches Bündel. Er verschwand durch die Tür. Ho stellte sich ans Fenster und blickte hinunter auf die Straße. Birgitta Roslin sank in einen Sessel. Erst jetzt machte sie sich klar, dass der getötete Mann auf den Tisch unmittelbar neben ihrem gefallen war.
Sie sah Ho an, die sich vom Fenster abwandte. Sie war sehr blass. Birgitta Roslin sah, dass sie zitterte. »Was ist passiert?« fragte sie.
»Sie waren diejenige, die sterben sollte«, sagte Ho. »Er wollte sie töten. Ich muss es so sagen, wie es ist.« Birgitta Roslin schüttelte den Kopf. »Sie müssen sich klar ausdrücken«, sagte sie. »Andernfalls weiß ich nicht, was ich tue.«
»Der Mann, der getötet worden ist, war Ya Ru. Hongs Bruder.«
»Aber was ist eigentlich geschehen?«
»Er versuchte, Sie zu töten. Wir haben ihn im letzten Mo ment gestoppt.« »Wir?« »Sie hätten sterben können, weil Sie mir das falsche Hotel genannt haben. Warum haben Sie das getan? Haben Sie geglaubt, Sie könnten mir nicht trauen? Sind Sie so verwirrt, dass Sie nicht unterscheiden können zwischen Freunden und anderen, die es nicht sind?« Birgitta Roslin hob die Hand. »Das geht mir zu schnell. Ich kann nicht folgen. Hongs Bruder? Warum wollte er mich töten?«
»Weil Sie zu viel wussten über das, was in Ihrem Land geschehen ist. Alle die, die gestorben sind. Wahrscheinlich - das ist jedenfalls Hongs Vermutung - steckte Ya Ru dahinter. «
»Aber warum?«
»Darauf kann ich nicht antworten. Ich weiß es nicht.«
Birgitta Roslin saß schweigend da. Als Ho ansetzte, wieder zu sprechen, stoppte sie sie mit einer Handbewegung. »Sie haben ›wir‹ gesagt«, sagte Birgitta Roslin schließlich. »Der Mann, der eben hinausgegangen ist, trug einen Gegenstand. War es ein Gewehr?«
»Ja. Ich hatte bestimmt, dass San auf Sie aufpassen sollte. Aber in dem Hotel, das Sie mir genannt haben, gab es niemanden mit Ihrem Namen. Es war San, der die Idee hatte, dass dieses Hotel am nächsten lag. Wir haben Sie durchs Fenster gesehen. Als Ya Ru an Ihren Tisch trat, wussten wir, dass er Sie umbringen wollte. San nahm das Gewehr und schoss. Es ging so schnell, dass keiner auf der Straße begriff, was passiert war. Die meisten glaubten, es sei ein Knall von einem Motorrad gewesen. San hatte die Waffe in einem Regenmantel verborgen.«
»San?«
»Hongs Sohn. Sie hat ihn zu mir geschickt.«
»Warum?«
»Hong fürchtete nicht nur um ihr eigenes Leben oder um Ihres. Sie hatte auch Angst um ihren Sohn. San ist überzeugt davon, dass Ya Ru Hong töten ließ. Es brauchte nicht viel, dass er jetzt seine Rache nahm.«
Birgitta Roslin war sterbenselend. Wie ein immer stärkeres und immer schmerzhafteres Gefühl erfüllte sie die Erkenntnis dessen, was geschehen war. Was sie zuvor geahnt, aber verworfen hatte, weil es ihr absurd erschienen war. Etwas in der Vergangenheit hatte in die Gegenwart hineingewirkt und den Tod der Menschen in Hesjövallen verursacht. Sie streckte die Hand aus und griff nach Hos Hand. Sie hatte Tränen in den Augen. »Ist es jetzt vorbei?«
»Ich glaube es. Sie können nach Hause fahren. Ya Ru ist tot. Alles steht still. Was danach geschieht, wissen weder Sie noch ich. Aber mit der Geschichte haben Sie auf jeden Fall nichts mehr zu tun.«
»Wie soll ich mit dieser Sache leben können, ohne zu verstehen, was eigentlich passiert ist?«
»Ich werde versuchen, Ihnen zu helfen.«
»Was wird mit San geschehen?«
»Die Polizei wird wohl Zeugen auftreiben, die sagen, dass ein Chinese einen anderen Chinesen erschossen hat. Aber niemand wird sagen können, dass es San war.« »Er hat mir das Leben gerettet.«
»Dadurch dass Ya Ru starb, hat er wahrscheinlich auch sein eigenes Leben gerettet.«
»Wer ist dieser Mann, Hongs Bruder, den alle fürchten?« Ho schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich die Frage beantworten kann. In vieler Hinsicht ist
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