Der Chinese
beschäftigten sie das Gefühl und das Unbehagen angesichts der Tatsache, dass ihre Ehe mit Staffan im Begriff war, zu verdorren und abzusterben. Sie waren gute Freunde, konnten einander die notwendige Geborgenheit geben. Aber die Liebe, die sinnliche Lust daran, einander nahe zu sein, war ganz und gar verschwunden.
In vier Tagen würde es ein Jahr her sein, seit sie sich zuletzt berührt und sich geliebt hatten, bevor sie einschliefen. Sie hatte eine zunehmende Ohnmacht verspürt, je näher der Jahrestag kam. Jetzt war er bald da. Ein übers andere Mal hatte sie versucht, mit Staffan über die Einsamkeit zu sprechen, die sie fühlte. Aber er war nicht bereit zu reden, entzog sich, wollte das Gespräch, dessen Notwendigkeit er natürlich einräumte, aufschieben. Er versicherte ihr, dass er sich nicht zu einer anderen Frau hingezogen fühlte, es war nur die Lust, die fehlte, die sich bestimmt bald wieder einstellen würde. Wenn sie nur Geduld hatten.
Sie trauerte um die verlorene Gemeinsamkeit mit ihrem Mann, dem stattlichen Zugbegleiter mit den großen Händen und dem Gesicht, das so leicht errötete. Aber sie hatte nicht die Absicht aufzugeben, sie war noch nicht bereit, ihr Verhältnis zu einer vertraulichen Freundschaft und nichts anderem werden zu lassen.
Sie holte sich eine weitere Tasse Kaffee und wechselte an einen anderen Tisch, der weniger verdreckt war. Ein paar jüngere Männer, die trotz der frühen Tageszeit schon kräftig angetrunken waren, führten eine Diskussion darüber, ob es Hamlet oder Macbeth gewesen war, der als Gefangener auf Schloss Kronborg gesessen hatte, das auf einem Felsen neben Helsingör thronte. Sie verfolgte amüsiert das Gespräch und fühlte sich versucht, sich einzumischen.
An einem Ecktisch saßen ein paar Jungen, kaum älter als vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Wahrscheinlich schwänzten sie die Schule. Warum sollten sie auch nicht, wo sich sowieso niemand darum zu kümmern schien. Sie sehnte sich nicht im Geringsten zurück zu der autoritären Schule, die sie selbst noch erlebt hatte. Gleichzeitig dachte sie an einen Vorfall vom vergangenen Jahr. Er hatte sie am Zustand des schwedischen Rechtsstaats verzweifeln lassen und dazu geführt, dass sie stärker als je zuvor das Bedürfnis hatte, mit ihrem Ratgeber Anker zu sprechen, der seit dreißig Jahren tot war. In einem Wohngebiet am Stadtrand von Helsingborg war eine fast achtzigjährige Frau von einer akuten Herzschwäche befallen worden und auf einem Gehweg zusammengebrochen. Zwei Jungen, der eine dreizehn, der andere vierzehn, waren vorbeigekommen. Statt der alten Frau zu helfen, hatten sie, ohne zu zögern, zuerst die Brieftasche aus ihrer Handtasche an sich genommen und dann versucht, sie zu vergewaltigen. Hätte nicht ein Mann mit einem Hund sie verscheucht, wäre es wahrscheinlich zu der Vergewaltigung gekommen. Die Polizei konnte die beiden Jungen später fassen. Doch da sie minderjährig waren, wurden sie wieder freigelassen.
Birgitta Roslin hatte von dem Vorfall von einem Staatsanwalt gehört, der die Geschichte von einem Polizisten erfahren hatte. Sie war empört gewesen und hatte versucht herauszufinden, warum keine Meldung beim Sozialamt gemacht worden war. Sie hatte bald erkannt, dass jedes Jahr vielleicht hundert Kinder Verbrechen begingen, ohne dass dies irgendeine Strafverfolgung nach sich zog. Niemand sprach mit den Eltern, die Sozialbehörde wurde nicht unterrichtet. Und dabei ging es nicht nur um einfache kleine Diebstähle, sondern auch um Raub und Körperverletzung, wobei zuweilen nur eine glückliche Fügung einem tödlichen Ausgang im Wege stand.
Das ließ sie am gesamten schwedischen Rechtssystem verzweifeln. Wem diente sie eigentlich? Der Gerechtigkeit oder der Gleichgültigkeit? Und was wären die Konsequenzen, wenn zugelassen wurde, dass immer mehr Kinder Straftaten begingen, ohne dass jemand reagierte? Wie hatte es so weit kommen können, dass das demokratische System durch ein wankendes Rechtssystem gefährdet wurde?
Sie trank ihren Kaffee aus und dachte, dass sie noch zehn Jahre arbeiten würde. Könnte sie es durchhalten? Konnte man ein guter und gerechter Richter sein, wenn man angefangen hatte, daran zu zweifeln, dass der Rechtsstaat wirklich funktionierte?
Sie wusste es nicht. Um die Gedanken abzuschütteln, die sie doch nicht zu einem Ergebnis zu ordnen vermochte, fuhr sie noch einmal über den Sund. Als sie auf der schwedischen Seite wieder ausstieg,
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