Der Chinese
war es neun Uhr. Sie überquerte die breite Hauptstraße, die mitten durch Helsingborg führt. Als sie um eine Ecke bog, fiel ihr Blick auf die Zeitungsaushänge der überregionalen Abendzeitungen, die ein Mann gerade anbrachte. Schlagzeilen wie im Krieg sprangen sie an. Sie hielt inne und las: »Massenmord in Hälsingland«. »Grauenhaftes Verbrechen. Polizei ohne Spur«. »Niemand weiß, wie viele Tote. Massenmord«.
Sie ging weiter zu ihrem Wagen. Sie kaufte die Abendzeitungen selten oder nie. Sie fand die unehrlichen Angriffe, die bei verschiedenen Gelegenheiten in diesen Blättern gegen das schwedische Rechtssystem gerichtet wurden, störend und zuweilen sogar anstößig. Auch wenn sie selbst in manchem zustimmte, mochte sie die Abendzeitungen nicht. Meistens schadeten sie der notwendigen Kritik, auch wenn der Vorsatz möglicherweise gut gewesen war.
Birgitta Roslin wohnte in der Einzelhaussiedlung Kjelltorp an der nördlichen Ausfahrt der Stadt. Unterwegs hielt sie an einem Laden. Der Inhaber war ein eingewanderter Pakistani, der sie immer mit einem freundlichen Lächeln begrüßte. Er wusste, dass sie Richterin war, und erwies ihr großen Respekt. Sie war sich nicht sicher, ob Frauen in Pakistan überhaupt Richterinnen werden konnten. Aber sie hatte ihn nie gefragt.
Als sie nach Hause kam, nahm sie ein Bad und ging danach ins Bett. Als sie um ein Uhr wach wurde, fühlte sie sich endlich ausgeschlafen. Nachdem sie ein paar Scheiben Brot gegessen und Kaffee getrunken hatte, kehrte sie zu ihrer Arbeit zurück. Ein paar Stunden später hatte sie an ihrem Computer das Urteil ins Reine geschrieben, das den schuldigen Mann freisprach, und es auf den Tisch ihrer Sekretärin gelegt. Offenbar fand irgendwo auf dem Gerichtsgelände eine Fortbildung statt, über die sie entweder nicht informiert worden war oder die sie - was wahrscheinlicher war - vollkommen vergessen hatte. Als sie nach Hause kam, wärmte sie ein Geflügelragout vom Vortag auf. Den Rest stellte sie für Staffan in den Kühlschrank.
Sie setzte sich mit einer Tasse Kaffee aufs Sofa, stellte den Fernseher an und schaltete auf Teletext. Da wurde sie wieder an die Schlagzeilen erinnert, die sie zuvor gesehen hatte. Die Polizei hatte keine wirkliche Spur und wollte weder bekannt geben, wie viele Menschen getötet worden waren, noch wie sie hießen, weil es noch nicht gelungen war, die engsten Verwandten zu benachrichtigen.
Ein Wahnsinniger, dachte sie. Entweder leidet er an Verfolgungswahn, oder er ist der Meinung, schlecht behandelt worden zu sein.
Ihre jahrelange Erfahrung als Richterin hatte sie gelehrt, dass es viele verschiedene Formen von Wahnsinn gab, die Menschen dazu brachten, abscheuliche Verbrechen zu begehen. Aber sie hatte auch gelernt, dass Gerichtspsychiater nicht immer in der Lage waren, Menschen zu durchschauen, die sich krank stellten, um eine mildere Strafe zu erhalten. Sie schaltete den Fernseher aus und ging in den Keller, wo sie einen kleinen Weinkeller eingerichtet hatte. Da lag eine Reihe Bestellkataloge verschiedener Weinimporteure. Erst vor wenigen Jahren hatte sie eingesehen, dass der Auszug der Kinder Staffan und ihr eine bessere finanzielle Situation beschert hatte. Jetzt glaubte sie, sich hier und da etwas Besonderes leisten zu können, und sie beschloss, jeden Monat ein paar Flaschen Rotwein zu bestellen. Es machte ihr Freude, die Angebote der Weinhändler zu studieren und sich vorzutasten. Es bedeutete einen nahezu verbotenen Genuss, vielleicht 500 Kronen für eine Flasche Wein zu bezahlen. Zweimal war es ihr gelungen, Staffan mitzulocken auf eine Reise nach Italien, wo sie mehrere Weingüter besucht hatten. Es war ihr jedoch nicht gelungen, ihn mehr als mäßig für Wein zu interessieren. Aber im Gegenzug begleitete sie ihn zu Jazzkonzerten nach Kopenhagen, obwohl es nicht gerade ihre Lieblingsmusik war.
Im Keller war es kalt. Sie kontrollierte, dass die Temperatur vierzehn Grad betrug, und setzte sich auf einen Schemel zwischen die Regale. Hier, zwischen den Flaschen, spürte sie eine große Ruhe. Hätte sie die Wahl gehabt zwischen einem Bassin mit warmem Wasser und dem Weinkeller, hätte sie wohl trotzdem ihren Keller vorgezogen, wo an diesem Tag hundertvierzehn Flaschen in den Regalen lagen.
Aber war die Ruhe, die sie hier unten empfand, eigentlich ganz echt? Wenn jemand ihr in jungen Jahren prophezeit hätte, dass sie eines Tages Wein sammeln würde, hätte sie sich geweigert, ihm zu
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