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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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hatte alles durchdacht, was es zu durchdenken gab, und ein anderes Urteil als ein Freispruch konnte nicht in Frage kommen. Sie schlief ein und träumte von ihrem Vater, an den sie keine eigene Erinnerung hatte. Er war Schiffsmaschinist gewesen. In einem schweren Sturm Mitte Januar 1949 war das Dampfschiff Runskär mit Mann und Maus in der Gävlebucht untergegangen. Sein Körper war nie gefunden worden. Birgitta Roslin war noch nicht geboren, als es geschah. Das Bild, das sie sich von ihrem Vater machte, kam von den Fotos in der Wohnung. Vor allem war es ein Bild, auf dem er mit zerzaustem Haar und aufgekrempelten Hemdsärmeln an einer Reling stand. Er lächelte jemandem auf dem Kai zu, einem Steuermann, der das Foto aufnahm, hatte ihre Mutter ihr erzählt. Aber Birgitta Roslin hatte sich immer vorgestellt, dass eigentlich sie es war, die der Vater ansah, obwohl das Foto vor ihrer Geburt aufgenommen worden war. In ihren Träumen kam der Vater oft zurück. Jetzt lächelte er sie an wie auf dem Foto, verschwand jedoch wieder, als hätte ein Nebel sich herangewälzt und ihn unsichtbar gemacht.
     
    Sie fuhr mit einem Ruck aus dem Schlaf hoch. Sie wusste sogleich, dass sie verschlafen hatte. Der Trick mit dem Schlüsselbund hatte nicht funktioniert. Er war heruntergefallen, aber sie hatte nichts davon gemerkt. Sie setzte sich auf und sah auf die Uhr. Es war schon nach sechs Uhr am Morgen. Sie hatte mehr als fünf Stunden geschlafen. Ich bin kaputt, dachte sie. Ich schlafe zu wenig, wie die meisten. Ich verbringe zu viel Lebenszeit damit, mir Sorgen zu machen. Es gibt zu vieles in meinem Leben, was mich beunruhigt. Aber im Moment ist es hauptsächlich das ungerechte Urteil, das mich aufwühlt und mich deprimiert.
     
    Birgitta Roslin rief ihren Mann an, der sich bestimmt schon gefragt hatte, wo sie steckte. Es war zwar nicht ganz ungewöhnlich, dass sie auf dem Sofa in ihrem Arbeitszimmer schlief, wenn sie sich gestritten hatten. Aber das war am Tag zuvor nicht der Fall gewesen.
     
    Er nahm beim ersten Klingeln ab. »Wo bist du?«
     
    »Ich bin in meinem Arbeitszimmer eingeschlafen.« 
    »Ist es denn nötig, dass du die Nächte hindurch arbeitest?« 
    »Ich schlage mich mit einem schwierigen Urteil herum.« 
    »Ich dachte, du hättest gesagt, du müsstest diesen Mann freisprechen?«
     
    »Genau das macht es so schwierig.«
     
    »Komm nach Hause und schlaf hier weiter. Ich gehe jetzt. Ich habe es eilig.« 
    »Wann kommst du zurück?« »Gegen neun. Wenn es keine Verspätungen gibt. In Halland soll Schnee gefallen sein.«
     
    Sie legte den Hörer auf und war plötzlich von großer Zärtlichkeit für ihren Mann erfüllt. Sie waren beide sehr jung gewesen, als sie sich in Lund während des Jurastudiums begegneten. Staffan war ihr ein Jahr voraus gewesen. Das erste Mal trafen sie sich auf einem Fest bei gemeinsamen Freunden. Danach hatte Birgitta sich ein Leben mit einem anderen Mann nie mehr vorstellen können. Sie war von seinen Augen, von seiner Körpergröße, von seinen großen Händen und von seiner hilflosen Art zu erröten überwältigt worden. Staffan war Anwalt geworden. Aber eines Tages war er nach Hause gekommen und hatte gesagt, er könne nicht mehr und wolle ein anderes Leben beginnen. Sie war nicht vorgewarnt und hatte verständnislos reagiert, weil er nicht einmal eine Andeutung gemacht hatte, dass er mit täglich schwereren Schritten in seine Anwaltskanzlei in Malmö ging. Am Tag danach hatte er zu ihrer Verwunderung eine Umschulung zum Eisenbahnschaffner begonnen und hatte eines Tages in einer blau-roten Uniform vor ihr im Wohnzimmer gestanden und erklärt, dass er an diesem Tag um 12 Uhr 19 den Zug 212 von Malmö über Alvesta nach Växjö und Kalmar begleiten würde.
     
    Es hatte nicht lange gedauert, bis er ganz offensichtlich ein fröhlicherer Mensch geworden war. Als er aus seinem Anwaltsdasein ausbrach, hatten sie schon vier Kinder, einen Sohn, eine Tochter und zuletzt Zwillinge, zwei Mädchen. Die Kinder waren dicht hintereinander gekommen, sie konnte nur voller Verwunderung an jene Zeit zurückdenken. Wie hatten sie das nur geschafft? Vier Kinder in sechs Jahren. Als sie die Stelle als Richterin bekam, waren sie von Malmö nach Helsingborg gezogen.
     
    Inzwischen waren die Kinder erwachsen. Die Zwillinge waren im vergangenen Jahr ausgezogen, in eine gemeinsame Wohnung. Es freute sie, dass sie nicht das gleiche Fach studierten und dass keine von den beiden Juristin werden wollte. Siv, die

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