Der Chinese
ihrem Bleistift zurück. Erst wenn das Urteil fertig war und alle Korrekturen ausgeführt waren, schrieb sie es auf dem summenden Schirm, auf dem Fische umherschwammen, während die Tasten warteten.
Sie beugte sich über die Blätter mit den hingeworfenen Formulierungen und Hinzufügungen. Es war ein einfaches Urteil mit überzeugender Beweisführung, und dennoch ein Urteil, das ihr große Probleme bereitete.
Sie wollte auf eine Strafe erkennen, konnte es aber nicht. Ein Mann und eine Frau hatten sich in einem Tanzlokal in Helsingborg getroffen. Die Frau war jung, kaum mehr als zwanzig Jahre alt, und hatte zu viel getrunken. Der Mann, an die vierzig Jahre alt, hatte versprochen, sie nach Hause zu begleiten, und durfte auf ein Glas Wasser mit in ihre Wohnung kommen. Die Frau war auf dem Sofa eingeschlafen. Dort hatte er sie vergewaltigt, ohne dass sie richtig wach geworden war, und war gegangen. Am Morgen hatte die Frau nur eine vage Erinnerung an das, was in der Nacht auf dem Sofa geschehen war. Sie ließ sich im Krankenhaus untersuchen und erhielt die Bestätigung, dass sie vergewaltigt worden war. Nach einer polizeilichen Ermittlung, die weder gründlicher noch schlampiger war als viele solcher Voruntersuchungen, kam der Mann vor Gericht. Der Prozess fand ein Jahr nach der Vergewaltigung statt. Birgitta Roslin hatte in ihrem Richterstuhl gesessen und die junge Frau betrachtet. Im Voruntersuchungsmaterial hatte sie gelesen, dass die Frau ihren Lebensunterhalt als Aushilfskassiererin in verschiedenen Lebensmittelläden verdiente. Aus dem Persönlichkeitsgutachten ging hervor, dass die Frau zu viel trank. Außerdem hatte sie kleinere Diebstähle begangen und war bei einer Gelegenheit entlassen worden, weil sie ihre Arbeit nicht sorgfältig gemacht hatte.
Der angeklagte Mann war in vieler Hinsicht ihr Gegensatz. Er arbeitete als Immobilienmakler mit dem Spezialgebiet Geschäftsräume. Er hatte einen guten Leumund, war unverheiratet und verdiente gut. Er hatte keine Vorstrafen. Doch Birgitta Roslin hatte das Gefühl, durch ihn hindurchsehen zu können, wie er da saß in seinem teuren und gutgebügelten Anzug. Für sie bestand kein Zweifel daran, dass er die Frau vergewaltigt hatte, nachdem sie auf dem Sofa eingeschlafen war. Mittels eines DNA-Tests war der Nachweis erbracht worden, dass er Geschlechtsverkehr mit der Frau gehabt hatte. Doch er bestritt einen Übergriff und jede Form von Gewalt. Die Frau sei einverstanden gewesen, sagten sowohl er als auch der Anwalt aus Malmö, der, wie Birgitta Roslin von früheren Fällen wusste, seine Klienten bedenkenlos mit allen zynischen Argumenten verteidigte, die ihm einfielen. Das Ganze war eine Sackgasse. Es stand Aussage gegen Aussage, ein unbescholtener Makler gegen eine alkoholisierte Kassiererin, die ihn tatsächlich mitten in der Nacht in ihre Wohnung gelassen hatte.
Es empörte sie, dass sie ihn nicht verurteilen konnte. Sosehr sie auch grundsätzlich die Auffassung verteidigte, in Zweifelsfällen eher freizusprechen als zu verurteilen, so wenig gefiel ihr der Gedanke, dass jemand, der sich eines der schlimmsten Übergriffe schuldig gemacht hatte, die man gegen einen anderen Menschen begehen kann, ohne Strafe davonkam. Sie hatte keine gesetzliche Handhabe, keine Möglichkeit, die Anklage und die Beweisführung anders zu interpretieren, als dass es zu einem Freispruch für den Mann kam. Was hätte der kluge Amtsrichter Anker tun können? Welchen Rat hätte er ihr gegeben? Er hätte meine Auffassung wohl geteilt, dachte Birgitta Roslin. Ein Schuldiger wird freigesprochen. Der alte Anker wäre sicher ebenso empört gewesen wie ich. Und er wäre ebenso still gewesen wie ich. Das ist die Qual des Richters, dass wir dem Gesetz gehorchen müssen und wider besseres Wissen einen Verbrecher laufen lassen, ohne dass er bestraft wird. Die Frau, die vielleicht nicht gerade ein Unschuldslamm war, würde mit der kränkenden Ungerechtigkeit leben müssen.
Sie erhob sich und legte sich auf das Sofa in ihrem Arbeitszimmer. Sie hatte es von ihrem eigenen Geld gekauft und statt des unbequemen Sessels, der zur Standardeinrichtung gehörte, aufgestellt. Vom Amtsrichter hatte sie gelernt, einen Schlüsselbund in die Hand zu nehmen und die Augen zu schließen. Wenn der Schlüsselbund zu Boden fiel, war es Zeit aufzuwachen. Eine kurze Weile musste sie ausruhen. Dann würde sie das Urteil zu Ende schreiben, nach Hause gehen und es am nächsten Tag ins Reine schreiben. Sie
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