Der Chinese
neunzehn Minuten älter war als ihre Schwester Louise, hatte sich nach einer langen Phase der Unentschlossenheit für Veterinärmedizin entschieden. Louise, die sich von ihrer Schwester durch ihr hitziges Temperament unterschied, war durchs Leben gehüpft, hatte in einem Herrenbekleidungsgeschäft als Verkäuferin gearbeitet und schließlich angefangen, Politikwissenschaft und Religionsgeschichte zu studieren. Birgitta Roslin hatte mehr als ein Mal versucht, ihrer Tochter eine Äußerung darüber zu entlocken, was sie eigentlich mit ihrem Leben anzufangen gedachte. Aber Louise war das verschlossenste ihrer vier Kinder, sie sagte nie viel darüber, was sie dachte. Birgitta Roslin ahnte, dass Louise ihr selbst am meisten glich. Der Älteste, David, der bei einem großen Medizinunternehmen arbeitete, war fast in allem seinem Vater ähnlich. Anna, das Zweitälteste Kind, war zum Kummer der Eltern auf langen Reisen in Asien unterwegs, ohne dass sie besonders viel darüber wussten, was sie eigentlich tat.
Meine Familie, dachte Birgitta Roslin. Die große Sorge und die große Freude. Ohne sie wäre das meiste in meinem Leben nicht viel wert.
Im Korridor vor ihrem Dienstzimmer hing ein großer Spiegel. Sie betrachtete ihr Gesicht und ihren Körper. An den Schläfen bekam das kurzgeschnittene dunkle Haar graue Strähnen. Die schlechte Angewohnheit, die Lippen zusammenzupressen, verlieh ihr einen abweisenden Gesichtsausdruck. Aber was sie quälte, war, dass sie in den letzten Jahren zugenommen hatte. Drei, vier Kilo, nicht mehr. Aber doch genug, dass man es ihrem Körper ansah.
Was sie sah, gefiel ihr nicht. Sie wusste, dass sie im Grunde eine attraktive Frau war. Jetzt fing sie an, ihre Ausstrahlung zu verlieren. Und sie leistete keinen Widerstand.
Sie hinterließ auf dem Tisch ihrer Sekretärin eine Nachricht, dass sie heute später kommen würde. Es war milder geworden, der Schnee schmolz schon. Sie ging zu ihrem Wagen, den sie in einer Querstraße geparkt hatte.
Aber plötzlich entschied sie sich anders. Sie brauchte nicht in erster Linie Schlaf. Wichtiger war es, den Kopf freizubekommen und an etwas anderes zu denken. Birgitta Roslin machte kehrt und ging zum Hafen hinunter. Es war windstill. Die Wolkendecke vom Vortag war aufgerissen. Sie ging hinunter zum Kai, an dem die Fähren nach Helsingör ablegten. Die Überfahrt dauerte nur wenige Minuten. Aber sie mochte es, an Bord zu sitzen, eine Tasse Kaffee oder ein Glas Wein zu trinken und ihre Mitreisenden zu beobachten, die ihre Einkaufstüten mit dem in Dänemark erstandenen AIkohol sortierten. Sie setzte sich an einen klebrigen Ecktisch. In einer plötzlich aufflammenden Verärgerung rief sie ein Mädchen zu sich, das herumging und das Geschirr von den Tischen räumte.
»Ich muss mich beschweren«, sagte sie. »Dieser Tisch ist abgeräumt, aber nicht abgewischt. Er ist unbeschreiblich schmuddelig.«
Das Mädchen zuckte mit den Schultern und wischte den Tisch sauber. Birgitta Roslin betrachtete angewidert den Wischlappen. Aber sie sagte nichts mehr. Das Mädchen erinnerte sie in gewisser Weise an die junge Frau, die vergewaltigt worden war. Warum, wusste sie nicht. Vielleicht war es die Gleichgültigkeit, der fehlende Wille, wenigstens das Geschirrabräumen ordentlich zu machen. Oder eine andere Art von Hilflosigkeit, die Birgitta Roslin nicht beschreiben konnte?
Die Fähre begann zu vibrieren. Es vermittelte ihr ein Gefühl von Wohlbehagen, vielleicht sogar Wollust. Sie dachte an ihre erste Auslandsreise. Damals war sie neunzehn gewesen. Zusammen mit einer Freundin war sie zu einem Sprachkurs nach England gefahren. Die Reise hatte auch mit einer Fährfahrt begonnen, zwischen Göteborg und Harwich. Birgitta Roslin sollte nie das Gefühl vergessen, als sie an Deck stand und auf dem Weg zu etwas befreiend Unbekanntem war. Die gleiche Freiheit spürte sie jetzt, als sie zwischen Schweden und Dänemark über den schmalen Sund hin- und zurückfuhr. Der Gedanke an das unerfreuliche Urteil rückte in den Hintergrund.
Ich bin nicht einmal mehr in der Mitte des Lebens, dachte sie. Ich bin schon an dem Punkt vorbei, wo man sich überhaupt bewusst ist, dass man ihn hinter sich lässt. Besonders viele wichtige Entscheidungen habe ich in meinem Leben nicht mehr vor mir. Ich bleibe Richterin bis zu meiner Pensionierung. Im Normalfall sollte ich noch erleben, dass ich Enkelkinder bekomme, bevor alles vorbei ist.
Doch am meisten
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