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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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es notwendig werden sollte, das würde er nicht schaffen. Sie sprachen nicht viel miteinander. San hatte gesagt, sie sollten ihr bisschen Kraft nicht auf Diskussionen und Streit verschwenden. »Jedes Wort, das ihr wechselt, kostet euch einen Schritt.«
     
    Keiner der Brüder widersprach. San wusste, dass sie ihm vertrauten. Jetzt, da ihre Eltern nicht mehr lebten und sie auf der Flucht waren, mussten sie davon ausgehen, dass San die richtigen Entschlüsse fasste.
     
    Sie rollten sich auf ihren Matten zusammen, richteten ihre Zöpfe auf dem Rücken und schlossen die Augen. San hörte, wie erst Guo Si und dann Wu einschlief. Sie sind noch immer wie kleine Kinder, dachte er. Obwohl beide über zwanzig Jahre alt sind. Jetzt haben sie nur noch mich. Ich bin der alte Mann, der weiß, was gut für sie ist. Aber auch ich bin noch jung.
     
    Er dachte daran, wie verschieden seine Brüder waren. Wu war eigensinnig, es war ihm immer schwergefallen zu gehorchen. Die Eltern hatten sich um seine Zukunft gesorgt und ihm vorgehalten, es werde ihm schlecht ergehen im Leben, wenn er immer widersprach, wenn andere redeten. Guo Si dagegen war langsam und hatte den Eltern nie Kummer gemacht. Er war der gehorsame Sohn gewesen, der Wu immer als Vorbild vorgehalten wurde.
     
    Ich habe von beiden etwas, dachte San. Aber wer bin ich selbst? Der mittlere Bruder, der bereit sein muss, die Verantwortung zu übernehmen, da es keinen anderen mehr gibt? Um ihn herum roch es nach Nässe und Lehm. Er lag auf dem Rücken und sah zu den Sternen auf.
     
    Seine Mutter hatte ihm abends oft den Himmel gezeigt. Dann konnte es vorkommen, dass sich ihr müdes Gesicht lächelnd öffnete. Die Sterne trösteten sie in ihrem schweren Leben. Sonst lebte sie mit dem Gesicht zur Erde gewandt, die ihre Reispflanzen aufnahm, als erwarte sie, dass sie selbst einmal auf dem gleichen Wege verschwinden würde. Wenn sie zu den Sternen aufblickte, brauchte sie für einen kurzen Moment nicht die Erde unter sich zu sehen.
     
    Er ließ den Blick über den Nachthimmel wandern. Einigen Sternen hatte die Mutter Namen gegeben. Einen hell leuchtenden Stern in einer Konstellation, die an einen Drachen erinnerte, hatte sie San genannt. »Das bist du«, hatte sie gesagt. »Von dort kommst du, dorthin wirst du einmal zurückkehren.«
     
    Der Gedanke, von einem Stern zu kommen, hatte ihn erschreckt. Aber er sagte nichts, weil seine Mutter anscheinend Freude daran hatte.
     
    San dachte an die furchtbaren Ereignisse, die ihn und seine Brüder so plötzlich in die Flucht getrieben hatten. Einer der neuen Vorarbeiter des Grundbesitzers, ein Mann mit einer großen Lücke zwischen den Schneidezähnen, der auf den Namen Fang hörte, hatte sich beschwert, dass die Eltern ihr tägliches Arbeitspensum nicht erfüllt hätten. San wusste, dass sein Vater starke Rückenschmerzen gehabt und die schwere Arbeit nicht geschafft hatte. Obwohl seine Mutter ihm geholfen hatte, waren sie in Verzug gekommen. Jetzt stand Fang vor ihrer Lehmhütte, und seine Zunge spielte zwischen seinen Zähnen wie eine gefährliche Schlange. Fang war jung, fast im gleichen Alter wie San. Aber sie kamen aus verschiedenen Welten. Fang sah die Eltern an, die mit den Strohhüten in den Händen und gesenkten Köpfen vor ihm hockten wie Insekten, die er jederzeit zertreten konnte. Wenn sie ihre Tagesarbeit nicht schafften, würden sie aus der Wohnung geworfen und müssten Bettler werden. In der Nacht hatte San gehört, wie sie miteinander flüsterten. Da es sehr selten geschah, dass sie nicht sofort einschliefen, hatte er gelauscht. Aber er hatte nicht verstanden, was sie zueinander sagten.
     
    Am Morgen war die geflochtene Matte, auf der die Eltern schliefen, leer gewesen. Er hatte sofort Angst bekommen. In der engen Hütte pflegten alle gleichzeitig aufzustehen. Die Eltern mussten sich hinausgeschlichen haben, um ihre Söhne nicht zu wecken. Er stand vorsichtig auf und zog seine zerlumpten Hosen und das einzige Hemd an, das er besaß. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Der Horizont glühte in einem rosafarbenen Licht. Irgendwo krähte ein Hahn. Die Menschen im Dorf standen gerade auf. Alle außer seinen Eltern. Sie hingen an dem Baum, der ihnen in der heißesten Zeit des Jahres Schatten gab. Ihre Körper baumelten im Morgenwind.
     
    An das Folgende konnte er sich später nur vage erinnern. Er wollte nicht, dass seine Brüder die Eltern mit offenen Mündern in den Schlingen hängen sahen. Er hatte sie abgeschnitten,

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