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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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mit der Sichel, die sein Vater auf dem Feld benutzt hatte. Sie waren schwer auf ihn gefallen, als wollten sie ihn mit sich in den Tod nehmen.
     
    Die Nachbarn hatten den Dorfältesten herbeigerufen, den alten Bao, der schlecht sehen konnte und so sehr zitterte, dass er sich kaum aufrecht halten konnte. Er hatte San beiseitegenommen und ihm gesagt, es sei das Beste, wenn er mit seinen Brüdern verschwand. Fang würde sich sicher an ihnen rächen und sie in die Gefängniszellen auf seinem Hof sperren. Oder sie hinrichten. Es gab keinen Richter im Dorf, es gab kein anderes Gesetz als das des Grundbesitzers, und in seinem Namen sprach und handelte Fang.
     
    Sie hatten sich auf den Weg gemacht, noch ehe der Scheiterhaufen mit den Leichen der Eltern heruntergebrannt war. Jetzt lag er hier unter den Sternen, und neben ihm schliefen seine Brüder. Was sie erwartete, wusste er nicht. Der alte Bao hatte gesagt, sie sollten den Weg zur Küste einschlagen, zur Stadt Kanton, um dort Arbeit zu suchen. San hatte gefragt, was für Arbeit es gebe. Aber darauf hatte der alte Bao nicht antworten können. Er hatte nur mit zitternder Hand nach Osten gezeigt.
     
    Sie gingen, bis ihre Füße wund und blutig und ihre Lippen vom Durst rissig waren. Die Brüder hatten geweint, weil die Eltern tot waren und sie Angst hatten vor dem Unbekannten, das sie erwartete. San hatte versucht, sie zu trösten, sie aber gleichzeitig ermahnt, nicht zu langsam zu gehen. Fang war wie eine Schlange. Er hatte Pferde, und er hatte Männer mit Lanzen und scharf geschliffenen Schwertern, mit denen er sie immer noch erreichen konnte.
     
    San sah weiter zu den Sternen auf. Er dachte an den Grundbesitzer, der in einer Welt lebte, in die die Armen niemals ihren Fuß setzen durften. Er zeigte sich nicht im Dorf, er war nur ein bedrohlicher Schatten, der im Dunkeln nicht zu erkennen war.
     
    Schließlich schlief San ein. In seinen Träumen drangen die drei abgeschlagenen Köpfe auf ihn ein. Er spürte die kalte Schneide des Schwertes am eigenen Hals. Die Brüder waren schon tot, ihre Köpfe waren in den Sand gerollt, das Blut schoss aus den klaffenden Stümpfen der Hälse. Er wachte immer wieder auf, um sich von dem Traum zu befreien, und immer wieder kehrte der Traum zurück, wenn er wieder einschlief.
     
    Sie machten sich frühmorgens auf den Weg, nachdem sie das letzte Wasser aus dem Krug getrunken hatten, den Guo Si an einem Riemen um den Hals trug. Im Laufe des Tages mussten sie Wasser finden. Sie gingen schnell den steinigen Weg entlang. Hin und wieder begegneten sie Menschen, die auf dem Weg aufs Feld waren oder schwere Lasten auf ihren Köpfen und Schultern trugen. San fragte sich, ob der Weg niemals ein Ende nahm. Vielleicht gab es gar kein Meer. Vielleicht gab es keine Stadt Kanton. Er sagte nichts zu Guo Si und Wu. Es hätte ihre Schritte allzu schwer gemacht. Ein kleiner schwarzer Hund mit einem weißen Fleck auf der Brust schloss sich den Wanderern an. Woher er gekommen war, hatte San nicht bemerkt. Plötzlich war er einfach da. Er versuchte, ihn zu verscheuchen, aber der Hund kam immer wieder zurück. Da warfen sie mit Steinen nach ihm. Aber bald hatte der Hund sie wieder eingeholt. »Der Hund soll ›die große Stadt auf der anderen Seite des Meeres‹ heißen«, sagte San.
     
    In der Tagesmitte, als die Hitze am größten war, ruhten sie unter einem Baum in einem kleinen Dorf aus. Die Dorfbewohner gaben ihnen Wasser, und sie konnten ihren Krug füllen. Der Hund lag hechelnd zu Sans Füßen.
     
    Er betrachtete ihn genau. An dem Tier war etwas Sonderbares. War es möglich, dass seine Mutter es als Boten aus dem Totenreich geschickt hatte? Einen Boten, der von den Toten zu den Lebenden laufen konnte? San wusste es nicht, er hatte nie so recht an all die Götter glauben können, die von den Dorfbewohnern und seinen Eltern verehrt wurden. Wie konnte man einen Baum anbeten, der nicht antworten konnte, einen Baum, der weder Ohren noch Mund hatte? Oder einen herrenlosen Hund? Wenn es die Götter gab, hätten er und seine beiden Brüder gerade jetzt ihre Hilfe gebraucht. Sie setzten ihre Wanderung am Nachmittag fort. Der Weg schlängelte sich vor ihnen weiter, ohne Ende.
     
    Nachdem sie noch drei Tage gegangen waren, begann sich ihr Weg mit mehr und mehr Menschen zu füllen. Karren, die mit Schilfrohr und Kornsäcken hoch beladen waren, überholten sie, während leere Karren aus der Gegenrichtung kamen.
     
    San nahm seinen Mut zusammen und sprach einen

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