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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Mann an, der auf einem leeren Wagen saß. »Wie weit ist es bis zum Meer?«
     
    »Zwei Tage. Mehr nicht. Morgen werdet ihr den Geruch von Kanton spüren, ihr könnt gar nicht fehlgehen.«
     
    Er lachte, als er weiterfuhr. San sah ihm nach. Was hatte er damit gemeint, dass die Stadt roch?
     
    Am selben Nachmittag gerieten sie plötzlich in einen dichten Schmetterlingsschwarm. Die Insekten waren durchsichtig und gelb, und ihre Flügel knisterten beim Flattern wie Papier. San blieb verwundert mitten in der Wolke von Schmetterlingen stehen. Es war, als hätte er ein Haus betreten, dessen Wände aus Flügeln bestanden. Hier würde ich gern bleiben, dachte er. Ich wünschte, dieses Haus hätte keine Tür. Hier könnte ich bleiben und den Flügeln der Schmetterlinge zuhören, bis ich eines Tages tot umfalle.
     
    Aber dort draußen waren die Brüder. Er konnte sie nicht allein lassen. Mit den Händen bahnte er sich einen Weg durch die Schmetterlinge und lächelte seinen Brüdern zu. Er würde sie nicht verlassen.
     
    Sie schliefen noch eine Nacht unter einem Baum, nachdem sie ein wenig Reis gegessen hatten. Sie waren alle hungrig, als sie sich zusammenrollten, um zu schlafen.
     
    Am folgenden Tag kamen sie nach Kanton. Der Hund war immer noch bei ihnen. San war mehr und mehr überzeugt, dass seine Mutter ihn aus dem Totenreich geschickt hatte, um sie zu beschützen. An so etwas hatte er nie geglaubt. Aber jetzt, wo er am Stadttor stand, überlegte er, ob es nicht wahr sein konnte.
     
    Sie näherten sich der wimmelnden Stadt, die sie ganz richtig mit ihren unangenehmen Gerüchen empfangen hatte. San fürchtete, zwischen all den fremden Menschen, die sich in den Straßen drängten, den Kontakt zu seinen Brüdern zu verlieren. Deshalb knotete er sich einen langen Schal um die Taille und band die Brüder zusammen. Jetzt konnten sie sich nicht mehr verlieren, außer wenn sie das Band zerrissen. Langsam bahnten sie sich ihren Weg, staunten über die großen Häuser, die Tempel, all die Waren, die zum Verkauf standen.
     
    Plötzlich straffte sich das Band. Wu zeigte mit der Hand. San sah, weshalb er stehen geblieben war. Ein Mann saß in einer Sänfte. Die Vorhänge, die normalerweise den Menschen darin verbargen, waren aufgezogen. Es gab keinen Zweifel, der Mann starb. Er war weiß, als hätte jemand seine Wangen mit weißem Puder gefärbt. Oder er war böse. Der Teufel schickte immer Dämonen mit weißen Gesichtern auf die Erde. Außerdem hatte er keinen Zopf und ein ovales, hässliches Gesicht mit einer großen, krummen Nase.
     
    Wu und Guo Si drängten sich näher an San heran und fragten, ob das ein Mensch oder ein Teufel sei. San wusste es nicht. Er hatte so etwas noch nie gesehen, nicht einmal in seinen schrecklichsten Albträumen.
     
    Plötzlich wurden die Vorhänge zugezogen, und die Sänfte wurde weggetragen. Ein Mann, der neben San stand, spuckte nach ihr aus.
     
    »Wer war das?« fragte San.
     
    Der Mann sah ihn verächtlich an und forderte ihn auf, seine Frage zu wiederholen. San konnte hören, dass sie sehr verschiedene Dialekte sprachen.
     
    »Der Mann in der Sänfte. Wer ist das?«
     
    »Ein weißer Mann, der viele Schiffe besitzt, die unseren Hafen anlaufen.« 
    »Ist er krank?« 
    Der Mann lachte. »Sie sehen so aus. Weiß wie Leichen, die man längst hätte verbrennen sollen.«
     
    Die Brüder gingen weiter durch die staubige und übelriechende Stadt. San betrachtete die Menschen. Viele waren gut gekleidet. Sie trugen keine Lumpen wie er selbst. Er begann zu ahnen, dass die Welt nicht ganz so war, wie er sie sich vorgestellt hatte.
     
    Nachdem sie viele Stunden durch die Stadt geirrt waren, sahen sie Wasser zwischen den Gassen. Wu riss sich los und lief zum Wasser hinunter. Er warf sich hin und begann zu trinken, hörte aber schnell damit auf und spuckte aus, als er merkte, dass es salzig war. Ein aufgedunsener Katzenkadavertrieb vorbei. San betrachtete den ganzen Dreck, nicht nur den Kadaver, sondern auch Kot von Tieren und Menschen. Er ekelte sich. Zu Hause im Dorf hatten sie mit ihrem Kot die kleinen Ackerstreifen gedüngt, auf denen sie ihr Gemüse anbauten. Hier schienen die Menschen ihre Scheiße direkt ins Wasser zu kippen, ohne dass dort etwas wuchs.
     
    Er sah übers Wasser, ohne die andere Seite erkennen zu können. Was man Meer nennt, muss ein sehr breiter Fluss sein, dachte er.
     
    Sie setzten sich auf eine schwankende Holzbrücke, die umgeben war von Booten. Es lagen so viele

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