Der Chinese
nebeneinander, dass man sie nicht zählen konnte. Überall war Geschrei und Lärm von Menschen. Das war einer der Unterschiede zwischen dem Leben in der Stadt und dem Leben im Dorf. Hier hatten die Menschen unablässig etwas zu schreien, schienen ständig etwas sagen oder klagen zu müssen.
Nirgends war etwas von dem Schweigen, an das San so sehr gewöhnt war.
Sie aßen den letzten Rest Reis und teilten das Wasser im Krug. Wu und Guo Si sahen ihn scheu an. Jetzt musste er beweisen, dass er ihr Vertrauen verdiente. Aber wie sollte er in diesem lärmenden Chaos von Menschen Arbeit für sie finden? Woher sollten sie zu essen bekommen? Wo sollten sie schlafen? Er betrachtete den Hund, der mit der Pfote über dem Maul dalag.
Er fühlte, dass er allein sein musste, um die Situation zu überblicken. San stand auf und bat die Brüder, bei dem Hund zu bleiben und zu warten. Da sie Angst hatten, dass er sie verließ, um in der dichten Menschenmenge auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden, sagte er beschwichtigend: »Stellt euch ein unsichtbares Band vor, das uns verbindet. Ich bin bald zurück. Sollte euch jemand ansprechen, so antwortet höflich, aber geht hier nicht weg. Sonst finde ich euch nie wieder.«
Er machte sich auf den Weg in die Gassen, blickte aber ständig zurück, um sich den Weg einzuprägen. Plötzlich öffnete sich eine der engen Straßen zu einem Platz mit einem Tempel. Menschen knieten oder verbeugten sich vor einem Altar, auf dem Opfergaben lagen und Weihrauch brannte. Meine Mutter wäre sofort dorthin gestürzt, dachte er. Mein Vater auch, aber zögernder. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals einen Fuß vor den anderen gesetzt hätte, ohne zu zögern.
Sie nahm das Foto mit in die Küche. In einer der Zeitungen war ein Übersichtsbild des Dorfes, in dem sich die Tragödie abgespielt hatte. Sie betrachtete das Foto eingehend durch die Lupe. Beim dritten Haus hielt sie inne und begann, die beiden Bilder miteinander zu vergleichen.
Schließlich war sie sicher, dass ihre Erinnerung sie nicht getrogen hatte. Es war nicht irgendein Dorf, das vom plötzlich ausbrechenden Bösen überfallen worden war. Es war das Dorf, in dem ihre Mutter aufgewachsen war. Alles stimmte. Zwar hatte ihre Mutter als Kind Lööf geheißen, doch da deren Eltern beide hinfällig und alkoholkrank waren, hatte man sie bei einer Familie mit Namen Andren als Pflegekind untergebracht. Sie hatte nicht oft über diese Zeit gesprochen. Sie war gut behandelt und versorgt worden, hatte aber dennoch unter der Sehnsucht nach ihren richtigen Eltern gelitten. Diese waren gestorben, bevor sie fünfzehn Jahre alt war, also musste sie im Dorf bleiben, bis man meinte, dass sie groß genug sei, Arbeit zu suchen und auf eigenen Beinen zu stehen. Als sie Birgittas Vater traf, verschwanden die Namen Lööf und Andren aus der Geschichte. Jetzt kam der eine Name mit voller Kraft zurück.
Das Foto aus den Papieren ihrer Mutter war vor einem Haus in dem Dorf aufgenommen, in dem der Massenmord stattgefunden hatte. Die Vorderseite des Hauses, mit den hölzernen Verzierungen an den Fenstern, war auf dem alten Bild genau so wie auf dem Foto in der Zeitung.
Es bestand kein Zweifel. In dem Haus, in dem ihre Mutter die Kindheit verbracht hatte, waren vor wenigen Nächten Menschen ermordet worden. Konnten es die Pflegeeltern ihrer Mutter sein, die ermordet worden waren? Die Zeitungen schrieben, dass die meisten Getöteten alte Menschen waren. Sie versuchte auszurechnen, ob es möglich war, und kam zu dem Ergebnis, dass die Pflegeeltern jetzt über neunzig Jahre alt sein mussten. Es konnte also stimmen. Ebenso gut konnten sie aber einer jüngeren Generation angehören. Es schauderte sie bei dem Gedanken. Sie dachte selten oder nie an ihre Eltern. Es fiel ihr sogar schwer, sich das Aussehen ihrer Mutter in Erinnerung zu rufen. Jetzt aber stürzte sich die Vergangenheit auf sie.
Staffan kam in die Küche. Er war wie immer sehr leise. »Du erschreckst mich«, sagte sie, »wenn ich nicht höre, dass du kommst.«
»Warum bist du auf?«
»Ich hatte Hunger.« Er betrachtete die Papiere, die auf dem Tisch lagen. Je mehr sie ihm erzählte, was sie sich gedacht hatte, umso überzeugter war sie, dass es sich wirklich so verhielt.
»Es ist trotz allem ziemlich weit entfernt«, sagte er, nachdem sie verstummt war. »Es ist ein äußerst dünner Faden, der dich mit diesem Dorf verbindet.«
»Dünn, aber dennoch
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