Der Chinese
die in eine Waschküche zu führen schien. Auch die war verschlossen. Er ging zu einem Fenster, stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute hinein. Durch einen Spalt in der Gardine sah er in ein Zimmer mit einem Fernseher. Er ging weiter zum nächsten Fenster. Es war dasselbe Zimmer, er sah wieder den Fernseher. »Jesus ist dein bester Freund« stand auf einem gestickten Wandbehang. Als er schon weitergehen wollte, fiel sein Blick auf etwas, was auf dem Fußboden lag. Zuerst hielt er es für ein Wollknäuel. Dann sah er, dass es eine gestrickte Socke war und dass sie an einem Fuß saß. Er trat einen Schritt vom Fenster zurück. Sein Herz pochte. Hatte er richtig gesehen? War es wirklich ein Fuß? Er kehrte zum ersten Fenster zurück, doch von dort konnte er nicht weit ins Zimmer hineinsehen. Dann ging er wieder an das zweite Fenster. Jetzt war er sicher. Es war ein Fuß. Ein regloser Fuß. Ob er einem Mann oder einer Frau gehörte, konnte er nicht sagen. Vielleicht saß die Person, der der Fuß gehörte, in einem Sessel. Aber es konnte auch sein, dass sie auf dem Boden lag. Er klopfte ans Fenster, so hart er zu klopfen wagte. Nichts geschah. Er holte sein Handy aus der Tasche und gab die Nummer des Notrufs ein. Das Netz war so schwach, dass er keinen Kontakt bekam. Er lief hinüber zum dritten Haus und klopfte an die Tür. Auch hier öffnete niemand. Er fragte sich, ob er sich in einer Landschaft befand, die sich in einen Albtraum verwandelte. Neben der Tür lag ein eiserner Fußkratzer. Er setzte ihn am Schloss an und brach die Tür auf. Sein einziger Gedanke war, ein Telefon zu finden. Als er ins Haus stürzte, erkannte er zu spät, dass der gleiche Anblick, der eines toten Menschen, ihm auch hier begegnen würde. Auf dem Fußboden in der Küche lag eine alte Frau. Ihr Kopf war fast ganz vom Hals getrennt. Neben ihr lag ein Hund, der in zwei Teile gespalten war.
Karsten Höglin schrie auf und wandte sich ab, um das Haus so schnell wie möglich zu verlassen. Vom Hausflur aus sah er einen Mann auf dem Wohnzimmerfußboden zwischen dem Tisch und einem roten Sofa mit weißem Überwurf. Der alte Mann war nackt. Sein Rücken war von Blut bedeckt. Karsten Höglin lief aus dem Haus. Er wollte nur weg. Beim Laufen verlor er seine Kamera, machte sich aber nicht die Mühe, sie aufzuheben. In ihm wuchs die Furcht, ein Wesen, das er nicht sehen konnte, würde hinterrücks auf ihn einschlagen. Er wendete den Wagen und fuhr davon. Erst als er auf die Hauptstraße gekommen war, hielt er an und drückte mit zitternden Fingern die Nummer des Notrufs. Im selben Augenblick, in dem er das Handy ans Ohr hob, traf ihn ein gewaltiger Schmerz in der Brust. Als hätte trotz allem jemand ihn eingeholt und ihm ein Messer in den Körper gestoßen.
Eine Stimme am Telefon sprach zu ihm. Aber er konnte nicht antworten. Der Schmerz war so gewaltig, dass nichts als ein Röcheln aus seiner Kehle drang.
»Ich kann nichts hören«, sagte eine Frauenstimme. Er versuchte es erneut. Wieder nur ein Röcheln. Er war im Begriff zu sterben. »Können Sie lauter sprechen?« fragte die Frau. »Ich verstehe Sie nicht.«
Mit äußerster Mühe brachte er ein paar Worte heraus. »Ich sterbe«, röchelte er. »Lieber Gott, ich sterbe. Helfen Sie mir.«
»Wo sind Sie?«
Aber die Frau erhielt keine Antwort. Karsten Höglin war auf dem Weg in das große Dunkel. In einem krampfhaften Versuch, sich von dem schweren Schmerz zu befreien, wie ein Ertrinkender, der vergebens versucht, an die Oberfläche zu gelangen, trat er aufs Gas. Der Wagen schoss auf die Gegenfahrbahn hinaus. Ein mit Büromöbeln beladener Kleinlaster auf dem Weg nach Hudiksvall konnte noch verlangsamen, bevor sie zusammenstießen. Der LKW-Fahrer stieg aus seinem Fahrzeug, um nachzusehen, wie es dem Mann in dem Wagen ergangen war, mit dem er kollidiert war. Er lag über dem Lenkrad.
Der Fahrer, ein Mann aus Bosnien, sprach nicht gut Schwedisch. »Wie geht es?« fragte er.
»Das Dorf«, röchelte Karsten Höglin. »Hesjövallen.« Danach sagte er nichts mehr. Als die Polizei und der Krankenwagen eintrafen, war Karsten Höglin bereits seinem schweren Herzinfarkt erlegen.
Es herrschte zunächst große Verwirrung darüber, was geschehen war. Am wenigsten konnte jemand ahnen, was sich hinter dem plötzlichen Herzinfarkt verbarg, den der Mann in dem dunkelblauen Volvo erlitten hatte. Erst als Karsten Höglin schon abtransportiert war und Abschleppwagen den schwer
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