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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Gesetze übertreten, von denen ein armer Mensch umringt ist?
     
    San nickte zögernd ins Dunkel hinein. »Von dort. Meine Brüder und ich sind viele Tage und Nächte gegangen. Wir sind an zwei großen Flüssen vorbeigekommen.«
     
    »Es ist gut, Brüder zu haben. Was macht ihr hier?« 
    »Wir suchen Arbeit. Aber wir finden keine.«
     
    »Das ist schwierig. Sehr schwierig. Die Menschen lassen sich von der Stadt anziehen wie Fliegen vom verschütteten Honig. Es ist nicht leicht, sein Auskommen zu finden.« San hatte eine Frage auf den Lippen, aber er entschloss sich, sie hinunterzuschlucken.
     
    Zi schien ihn zu durchschauen. »Möchtest du wissen, wovon ich lebe, da ich nicht hungrig bin und keine Lumpen trage?« 
    »Ich will nicht neugierig sein gegenüber Menschen, die über mir stehen.«
     
    »Das macht mir nichts aus. Mein Vater hat Sampans besessen und eine kleine Handelsflotte hier auf dem Fluss hinund herfahren lassen. Als er starb, haben einer meiner Brüder und ich das Geschäft übernommen. Mein dritter und vierter Bruder sind in das Land jenseits des Meeres ausgewandert, nach Amerika. Dort haben sie die schmutzigen Kleider der weißen Männer gewaschen und damit ihr Glück gemacht. Amerika ist ein eigenartiges Land. Wo sonst kann man vom Schmutz anderer reich werden?«
     
    »Ich habe daran gedacht«, sagte San, »in dieses Land zu reisen.« Zi betrachtete ihn forschend. »Dafür braucht man Geld. Niemand fährt umsonst über das große Meer. Jetzt wünsche ich gute Nacht. Ich hoffe, es gelingt euch, Arbeit zu finden.«
     
    Zi verbeugte sich leicht und verschwand im Dunkel. Schon war er weg. San legte sich hin und fragte sich, ob er sich das kurze Gespräch eingebildet hatte. Vielleicht hatte er mit seinem eigenen Schatten gesprochen? Der Traum, ein ganz anderer zu sein?
     
    Die Brüder setzten ihre trostlose Suche nach Arbeit und Essen auf langen Wanderungen durch die wimmelnde Stadt fort. San band sich nicht mehr mit den Brüdern zusammen, er kam sich vor wie ein Tier mit zwei Jungen, die sich in der Menschenmenge an ihn drängten. Sie suchten Arbeit an den Kais und in den Gassen. San ermahnte seine Brüder, sich gerade zu halten, wenn sie vor einer hochgestellten Person standen, die ihnen vielleicht Arbeit geben konnte. »Wir müssen stark aussehen«, sagte er. »Niemand gibt einem Menschen Arbeit, der keine Kraft in Armen und Beinen hat.«
     
    Sie aßen, was andere weggeworfen hatten. Wenn sie mit den Hunden um einen Knochen stritten, kam es San vor, als verwandelten sie sich allmählich in Tiere. Seine Mutter hatte ein Märchen von einem Mann erzählt, der in ein Tier mit Schwanz und vier Beinen und ohne Arme verwandelt wurde, weil er faul war und nicht arbeiten wollte.
     
    Aber es hatte nichts mit Faulheit zu tun, dass sie nicht arbeiteten.
     
    Sie schliefen auf der Brücke in der feuchten Wärme. Manchmal zogen heftige Regenfälle vom Meer über die Stadt hinweg. Sie suchten Schutz unter der Brücke, krochen zwischen die nassen Balken. San merkte, dass Guo Si und Wu langsam verzweifelten. Ihr Lebensmut wurde mit jedem Tag geringer, jedem Tag des Hungers, der Regenfälle, des Gefühls, dass keiner sie sah und keiner sie brauchte.
     
    Eines Abends bemerkte San, dass Wu gekrümmt dahockte und wirre Gebete zu Göttern murmelte, die ihre Eltern verehrt hatten. Das entrüstete ihn für einen Augenblick. Die Götter der Eltern hatten ihnen nie geholfen, weder früher noch jetzt. Aber er sagte nichts. Wenn Wu in seinen Gebeten Trost fand, hatte er nicht das Recht, ihm dieses Gefühl zu nehmen.
     
    San erlebte Kanton mehr und mehr als einen Ort des Schreckens. Jeden Morgen, wenn sie ihre endlose Wanderung begannen, um Arbeit zu suchen, lagen andere tote Menschen in den Rinnsteinen. Manchmal hatten Ratten oder Hunde an ihren Gesichtern genagt. Jeden Morgen fürchtete er, dass sein Leben in einer der vielen Gassen Kantons enden würde. Nach einem weiteren Tag in der feuchten Wärme verlor auch San allmählich die Hoffnung. Er war so hungrig, dass ihm schwindlig war und er nicht klar denken konnte. Als er mit seinen schlafenden Brüdern auf der Brücke lag, dachte er zum ersten Mal, er könnte ebenso gut einschlafen und niemals wieder aufwachen.
     
    Es gab nichts, wofür es sich aufzuwachen lohnte.
     
    In der Nacht träumte er wieder von den drei Köpfen. Sie begannen plötzlich, mit ihm zu sprechen, aber er konnte nicht verstehen, was sie sagten.
     
    Als er in der Morgendämmerung die Augen

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