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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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aufschlug, saß Zi auf einem Poller und rauchte Pfeife. Er lächelte, als er sah, dass San aufgewacht war. »Du schläfst unruhig«, sagte er. »Ich konnte sehen, dass du von etwas geträumt hast, vor dem du fliehen wolltest.«
     
    »Ich habe von abgeschlagenen Köpfen geträumt«, sagte San. »Vielleicht war einer davon mein eigener.«
     
    Zi sah ihn nachdenklich an, ehe er antwortete. »Wer wählen kann, der wählt. Du und deine Brüder, ihr seht nicht besonders stark aus. Man sieht, dass ihr hungert. Wer jemanden zum Tragen oder Schleppen oder Ziehen braucht, sucht sich keinen aus, der hungrig ist. Jedenfalls nicht, solange es Neuankömmlinge gibt, die noch bei Kräften sind und Essen im Sack haben.«
     
    Zi klopfte seine Pfeife aus, ehe er fortfuhr. »Jeden Morgen treiben die Toten im Fluss. Die, die nicht mehr können. Die keinen Sinn mehr darin sehen, noch länger zu leben. Sie packen sich Steine unters Hemd oder binden sich Gewichte an die Beine. Kanton ist eine Stadt voll der unruhigen Geister von Menschen geworden, die sich das Leben genommen haben.«
     
    »Warum erzählst du mir das? Meine Qualen sind schon groß genug.«
     
    Zi hob abwehrend die Hand. »Ich erzähle es nicht, um dich zu beunruhigen. Ich hätte nichts gesagt, wenn ich nicht noch etwas hinzuzufügen hätte. Mein Cousin hat eine Fabrik, in der gerade viele Arbeiter krank sind. Vielleicht kann ich dir und deinen Brüdern helfen.«
     
    San konnte kaum glauben, dass er richtig hörte. Aber Zi wiederholte, was er gesagt hatte. Er wolle nichts versprechen, aber vielleicht könne er ihnen Arbeit verschaffen. »Warum willst du ausgerechnet uns helfen?«
     
    Zi zuckte die Schultern. »Warum tut man, was man tut? Und warum tut man etwas nicht? Vielleicht meine ich, dass du Hilfe verdienst.«
     
    Zi stand auf. »Ich komme zurück, wenn ich etwas weiß«, sagte er. »Ich bin kein Mensch, der mit halben Versprechungen um sich wirft. Ein nicht gehaltenes Versprechen kann einen Menschen vernichten.«
     
    Er legte ein wenig Obst vor San hin und entfernte sich. San sah ihn die Brücke entlanggehen und im Gewimmel der Menschen verschwinden.
     
    Wu hatte immer noch Fieber, als er aufwachte. Seine Stirn war heiß.
     
    San setzte sich zu Wu, Guo Si saß auf der anderen Seite, und erzählte von Zi. »Er hat mir diese Früchte gegeben«, sagte er. »Er ist der erste Mensch hier in Kanton, der uns etwas gegeben hat. Vielleicht ist Zi ein Gott, einer, den unsere Mutter uns aus der anderen Welt geschickt hat. Wenn er nicht wiederkommt, wissen wir, dass er nur ein falscher Mensch war. So lange warten wir hier.«
     
    »Wir werden verhungern, ehe er zurückkommt«, sagte Guo Si. San war entrüstet. »Ich will mir deine dummen Klagen nicht anhören.« Guo Si sagte nichts mehr. San hoffte, dass sie nicht zu lange warten mussten.
     
    Die Hitze an diesem Tag war erstickend. San und Guo Si gingen abwechselnd zur Pumpe und holten Wasser für Wu, und San hatte Glück und fand ein paar Wurzeln auf dem Markt, die sie roh aufaßen.
     
    Am Abend, als es dunkel wurde, war Zi noch nicht wiedergekommen. Auch San begann zu verzweifeln. Vielleicht war Zi doch einer, der durch falsche Versprechen tötete. Bald war nur noch San wach. Er saß am Feuer und lauschte nach allen Geräuschen, die aus dem Dunkel zu ihm drangen. Er merkte nie, wenn Zi kam. Plötzlich stand er hinter seinem Rücken. San schrak zusammen.
     
    »Weck deine Brüder«, sagte Zi. »Wir müssen gehen. Ich habe Arbeit für euch.«
     
    »Wu ist krank. Hat es nicht Zeit bis morgen?«
     
    »Dann haben andere die Arbeit bekommen. Entweder gehen wir jetzt oder gar nicht.«
     
    San beeilte sich, Guo Si und Wu zu wecken. »Wir müssen gehen«, sagte er. »Morgen werden wir endlich Arbeit haben.«
     
    Zi führte sie durch die dunklen Gassen. San spürte, dass er gegen Menschen trat, die auf der Straße schliefen. Er hielt Guo Si an der Hand, der wiederum den Arm um Wu gelegt hatte. San merkte bald am Geruch, dass sie sich in der Nähe des Wassers befanden.
     
    Dann geschah alles sehr schnell. Aus dem Dunkel tauchten fremde Männer auf, die sie an den Armen packten und ihnen Säcke über die Köpfe zogen. San bekam einen Schlag und fiel um, kämpfte aber weiter. Als er wieder zu Boden gedrückt wurde, biss er so fest wie möglich in einen Arm und konnte sich befreien. Aber er wurde gleich wieder eingefangen. Irgendwo in der Nähe hörte San die Angstschreie Wus. Im Schein einer schwankenden Laterne sah er den

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