Der Chinese
Armen?
An diesem Abend, unmittelbar vorm Einschlafen, erkannte San, dass ihre einzige Überlebensmöglichkeit in der Flucht bestand. Tagtäglich sah er, wie unterernährte Arbeiter zusammenbrachen und weggetragen wurden.
Am nächsten Tag sprach er über seinen Plan mit Hao, der ihm nachdenklich zuhörte.
»Amerika ist ein großes Land«, sagte Hao. »Aber nicht groß genug, als dass ein Chinese wie du oder dein Bruder darin verschwinden könnte. Wenn du es ernst meinst, musst du zurück nach China fliehen. Sonst nehmen sie euch irgendwann gefangen. Was dann mit euch passiert, brauche ich dir nicht zu sagen.«
San dachte lange darüber nach, was Hao gesagt hatte. Noch war die Zeit für eine Flucht nicht gekommen und auch nicht die Zeit, Guo Si einzuweihen.
Spät im Februar zog ein heftiger Schneesturm über die Wüste von Nevada hinweg. Im Laufe von zwölf Stunden fiel mehr als ein Meter Schnee. Als das Unwetter abgezogen war, sank die Temperatur. Am Morgen des 1. März 1864 mussten sie sich freischaufeln. Die Iren auf der anderen Seite des gefrorenen Flusses waren weniger hart betroffen, da sich ihr Zelt auf der geschützten Seite befand. Jetzt standen sie da und lachten die Chinesen aus, die mit ihren Schaufeln arbeiteten, um das Zelt und den Weg nach oben vom Schnee zu befreien. Wir bekommen nichts umsonst, dachte San. Nicht einmal der Schnee fällt gerecht.
Er sah Guo Si an, wie müde er war, kaum schaffte er es, seine Schaufel zu heben. Aber San hatte einen Entschluss gefasst. Bis zum nächsten Neujahr des weißen Mannes mussten sie sich am Leben erhalten.
Im März kamen auch die ersten Schwarzen in das Eisenbahndorf in der Schlucht. Sie schlugen ihre Zelte auf der Seite der Chinesen auf. Die Brüder hatten noch nie einen Schwarzen gesehen. Sie kamen in Lumpen und froren mehr, als San je Menschen hatte frieren sehen. Viele von ihnen starben schon während der ersten Zeit in der Schlucht und auf dem Bahndamm. Sie waren so schwach, dass sie in der Dunkelheit zu Boden fielen und erst viel später im Frühjahr gefunden wurden, als der Schnee zu schmelzen begann. Die schwarzen Männer wurden noch schlechter behandelt als die Chinesen, und der Tonfall, in dem »niggers« gesagt wurde, war noch schlimmer als bei dem Wort »chinks«.
Sogar Xu, der sonst Zurückhaltung predigte, wenn es darum ging, wie man über die anderen Arbeiter beim Eisenbahnbau sprach, zeigte offen seine Verachtung für die Schwarzen. »Die Weißen nennen sie gestürzte Engel«, sagte er. »Nigger sind seelenlose Tiere, niemand vermisst sie, wenn sie sterben. Anstelle von Gehirnen haben sie Fleischklumpen, die halb verrottet sind.«
Guo Si begann, nach den Schwarzen auszuspucken, wenn sich die Arbeitsgruppen einmal begegneten. San selbst war es unangenehm zu sehen, dass es Menschen gab, die noch schlechter behandelt wurden als er selbst. Er untersagte seinem Bruder energisch sein Benehmen.
Die ungewöhnlich späte und strenge Kälte legte sich wie eine eiserne Decke auf die Schlucht und den Bahndamm. Eines Abends, als sie mit ihrem Essgeschirr dicht an einem Feuer saßen, teilte Xu mit, sie würden am nächsten Tag in ein anderes Lager und an einen anderen Arbeitsplatz umziehen, nahe an dem Gebirge, durch das sie sich jetzt hindurchgraben und -sprengen sollten. Am nächsten Morgen sollten alle, wenn sie das Zelt verließen, ihre Wolldecken und Schüsseln und Essstäbchen mitnehmen.
Sie brachen früh am nächsten Tag auf. San konnte sich nicht erinnern, jemals eine so strenge Kälte erlebt zu haben. Er ging hinter seinem Bruder, um sicher zu sein, dass er nicht fiel und liegen blieb. Sie folgten dem Bahndamm und kamen an die Stelle, wo die Schienen aufhörten und dann, einige hundert Meter weiter, auch der Bahndamm. Aber Xu trieb sie weiter. Das flackernde Licht der Laternen schlug gegen das Dunkel. San wusste, dass sie jetzt sehr nahe an dem Gebirge waren, das die Weißen Sierra Nevada nannten. Dort sollten sie Hohlwege und Tunnel aus dem Felsen hauen, damit der Eisenbahnbau weitergehen konnte.
Direkt vor dem niedrigsten Gebirgskamm blieb Xu stehen. Dort waren Zelte aufgestellt, und es brannten Feuer. Die Männer, die den ganzen Weg von der Schlucht bis hierher gegangen waren, ließen sich dicht bei den wärmenden Flammen zu Boden fallen. San sank auf die Knie und streckte seine durchgefrorenen Hände aus, die mit Stofffetzen umwickelt waren. Im selben Augenblick hörte er eine Stimme
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