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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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die Rippe eines Menschen sei, vielleicht seine eigene. Er fühlte seinen Brustkorb zusammensinken, so dass er keine Luft bekam. Er versuchte vergeblich, das Gewicht abzuschütteln.
     
    San öffnete die Augen. Guo Si hatte sich im Schlaf auf ihn gelegt, um die Wärme zu halten. San schob ihn behutsam zur Seite und deckte ihn mit der Wolldecke zu. Er setzte sich auf, rieb seine steifen Glieder und legte Holz auf das Feuer, das zwischen einigen zusammengesuchten Steinen brannte. Er streckte seine Hände nach den Flammen aus. Es war jetzt die dritte Nacht, seit sie aus dem Gebirge und vor den gefürchteten Vorarbeitern Wang und JA geflohen waren. San hatte nicht vergessen, was Wang denen angedroht hatte, die so verwegen waren, eine Flucht zu versuchen.
     
    Noch hatten sie keine Verfolger gesehen. Vielleicht hielt der Vorarbeiter sie für zu dumm, um Pferde auf der Flucht zu reiten.
     
    Trotzdem hatten sie ein großes Problem. Eines der beiden Pferde war am Tag zuvor gestürzt. Es war das, auf dem San geritten war, ein kleines Indianerpony, das genauso ausdauernd zu sein schien wie das gefleckte Pferd, an das Guo Si sich klammerte. Plötzlich war das Pferd gestolpert und gestürzt. Es war tot gewesen, noch bevor es auf der Erde lag. San wusste nichts von Pferden, er dachte, das Herz des Pferdes hätte plötzlich aufgehört zu schlagen, genauso, wie es bei Menschen passieren konnte.
     
    Sie hatten das Pferd zurückgelassen, nachdem sie ihm ein großes Stück Fleisch aus dem Rücken geschnitten hatten. Um mögliche Verfolger zu täuschen, hatten sie ihre Richtung etwas mehr nach Süden geändert. Auf einer Strecke von ein paar hundert Metern war San hinter Guo Si gegangen und hatte Zweigbüschel hinter sich hergezogen, um ihre Spuren zu verwischen.
     
    In der Dämmerung hatten sie ihr Lager aufgeschlagen, das Fleisch gebraten und gegessen, bis sie nicht mehr konnten. Das übrige Fleisch würde nach Sans Schätzung noch drei Tage reichen.
     
    San wusste nicht, wo sie waren und wie weit es noch bis zum Meer und der Stadt mit den vielen Schiffen war. Solange sie beide reiten konnten, hatten sie großen Abstand zwischen sich und das Gebirge gebracht. Mi t einem Pferd, das sie nicht beide tragen konnte, mussten die Strecken, die sie zurücklegten, dramatisch kleiner werden.
     
    San drückte sich an Guo Si, um sich warm zu halten. Aus der Nacht drang einsames Bellen zu ihnen, vielleicht von Füchsen, vielleicht von wilden Hunden.
     
    Er wachte von einem Knall auf, der ihm fast den Kopf zerrissen hätte. Als er mit heftigen Schmerzen im linken Ohr die Augen öffnete, sah er direkt in das Gesicht, von dem er gehofft hatte, es nie wiederzusehen. Es war noch dunkel, auch wenn eine leichte Morgenröte über der fernen Sierra Nevada zu erkennen war. JA stand mit dem Gewehr in der Hand da. Er hatte es dicht an Sans Ohr abgefeuert.
     
    JA war nicht allein. Neben ihm standen Brown und einige Indianer, die Bluthunde an der Leine hielten. JA überließ Brown das Gewehr und zog einen Revolver. Er richtete ihn auf Sans Kopf. Dann zog er die Mündung zur Seite und feuerte einen Schuss neben Sans rechtem Ohr ab. Der Schmerz warf ihn zu Boden. Als er sich aufrichtete, sah er, dass JA etwas brüllte, aber er hörte nichts. Ein heftiges Dröhnen erfüllte seinen Kopf. Dann richtete JA den Revolver auf Guo Sis Kopf. San sah den Schrecken in seines Bruders Gesicht, konnte aber nichts tun. Zwei Schüsse krachten neben Guo Sis Ohren. San sah Tränen des Schmerzes in seinen Augen. Die Flucht war zu Ende. Brown legte den Brüdern Seilschlingen um den Hals, nachdem er ihnen die Hände auf dem Rücken gefesselt hatte. Dann begann der Weg zurück. San wusste, dass er und Guo Si von jetzt an die gefährlichsten Arbeitsaufträge ausführen müssten, es sei denn, Wang ließ sie aufhängen. Niemand würde ihnen Gnade widerfahren lassen. Wer floh und gefasst wurde, gehörte zu den niedrigsten Arbeitern beim Eisenbahnbau. Sie hatten den letzten Rest ihres Menschenwerts verloren. Für sie gab es nichts anderes mehr als zu arbeiten, bis sie starben.
     
    Als sie am ersten Abend ihr Lager aufschlugen, hatten weder San noch Guo Si das Gehör wiedererlangt. In ihren Köpfen dröhnte es. San suchte Guo Sis Blick, um ihn zu ermuntern. Aber Guo Sis Augen waren tot. San verstand, dass er seine ganze Kraft brauchen würde, um ihn am Leben zu halten. Er würde es sich nie verzeihen, wenn er seinen Bruder sterben ließ. Noch immer hatte er ein Gefühl von Schuld

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