Der Chinese
im Dunkel verschwinden. Jetzt wurde das letzte Band zu ihrem alten Land durchschnitten.
San sah zum Sternenhimmel auf. Der Himmel, der sich über seinem Kopf wölbte, war nicht so wie der, den er früher erlebt hatte. Die Sterne bildeten die gleichen Muster, aber sie hatten sich verschoben.
Ihm war, als verstünde er jetzt, was Einsamkeit bedeutet: selbst von den Sternen über seinem Kopf verlassen zu werden.
»Wohin fahren wir?« flüsterte Guo Si.
»Ich weiß nicht.«
Als sie an Land gingen, mussten sie sich aneinander festhalten, um nicht zu stürzen. Sie waren so lange an Bord des Schiffes gewesen, dass sie das Gleichgewicht verloren, als der Boden sich plötzlich nicht mehr bewegte.
Sie wurden in einen dunklen Raum gestoßen, der nach Katzenpisse und Angst stank. Ein chinesischer Mann, der gekleidet war wie die weißen Männer, kam in den Raum. Neben ihm standen zwei andere Chinesen, die helle Petroleumlampen hielten.
»Ihr bleibt heute Nacht hier«, sagte der weiße Chinese. »Morgen setzen wir die Reise fort. Versucht nicht, von hier auszubrechen. Wenn ihr Lärm macht, binden wir euch die Kiefer zusammen. Ist es dann immer noch nicht ruhig, schneide ich euch die Zunge ab.«
Er hob ein Messer, so dass es im Schein der Lampen deutlich zu sehen war. »Wenn ihr tut, was ich sage, geht alles gut. Tut ihr es nicht, geht es schlecht. Ich habe Hunde, die Menschenzungen lieben.«
Er steckte das Messer zurück in seinen Gürtel. »Morgen bekommt ihr zu essen«, fuhr er fort. »Alles wird gut. Ihr werdet bald anfangen zu arbeiten. Wer tüchtig ist, kann eines Tages mit großen Reichtümern über das Meer zurückkehren.«
Er verließ den Raum zusammen mit den Lampenträgern. Keiner der Männer, die sich im Dunkel drängten, wagte etwas zu sagen. San flüsterte Guo Si zu, es sei am besten, wenn sie versuchten zu schlafen. Was immer am nächsten Tag passieren würde, sie würden ihre Kräfte brauchen.
San lag lange wach neben seinem Bruder, der sofort eingeschlafen war. Ringsumher im Dunkel waren unruhige Atemzüge zu hören, die Atemzüge der Schlafenden als auch derer, die wach lagen. Er presste das Ohr an die kalte Wand und versuchte, Geräusche von draußen aufzufangen. Aber die Wand war dick und stumm, kein Ton drang hindurch. »Du musst uns holen«, sagte er zu Wu, ins Dunkel hinein. »Auch wenn du tot bist, du bist der Einzige von uns, der noch in China ist.«
Am nächsten Tag wurden sie in zugedeckten Wagen mit vorgespannten Pferden weggebracht. Sie verließen die Stadt, ohne etwas von ihr gesehen zu haben. Erst als sie in eine sandige und trockene Landschaft gekommen waren, in der nur niedrige Büsche wuchsen, schlugen berittene Männer mit Gewehren in der Hand die Planen beiseite, mit denen die Wagen zugedeckt waren.
Die Sonne schien, aber es war kalt. San sah, dass die Wagen eine lange Karawane bildeten. In der Ferne erkannte er eine langgezogene Bergkette.
»Wohin fahren wir?« fragte Guo Si.
»Ich weiß es nicht. Ich habe dir gesagt, dass du nicht so viel fragen sollst. Ich antworte, wenn ich kann.«
Sie fuhren mehrere Tage in Richtung der Berge. Nachts schliefen sie unter den Wagen, die im Kreis aufgestellt wurden.
Mit jedem Tag, der verging, sanken die Temperaturen. San fragte sich oft, ob er und sein Bruder erfrieren würden. Das Eis war schon in ihm. Ein schweres, von Entsetzen gelähmtes Herz aus Eis.
Am 9. März 1864 begannen Guo Si und San, das Gebirge abzutragen, das der Eisenbahn, die über den gesamten nordamerikanischen Kontinent führen sollte, den Weg versperrte. Es war einer der härtesten Winter, die man seit Menschengedenken in Nevada erlebt hatte. Die Tage waren so kalt, dass man Eiskristalle statt Luft zu atmen meinte.
San und Guo Si hatten bis dahin weiter im Westen gearbeitet, wo es einfacher war, den Boden vorzubereiten und Schienen zu legen. Sie waren Ende Oktober direkt vom Schiff dorthin gekommen. Zusammen mit vielen anderen, die man in Ketten aus Kanton geholt hatte, waren sie von Chinesen empfangen worden, die sich ihre Zöpfe abgeschnitten und die Kleidung der Weißen angelegt hatten und Uhrenketten auf der Brust trugen. Die Brüder waren von einem Mann begrüßt worden, der den gleichen Nachnamen hatte wie sie: Wang. Zu Sans großem Schrecken hatte Guo Si, der sonst nie etwas sagte, den Mund aufgemacht und protestiert. »Wir wurden überfallen, gefesselt und an Bord gebracht. Es war nicht unser
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