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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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die irischen Männer betrunken sind, nennen sie uns auch Pigs.«
     
    »Warum können sie uns nicht leiden?« fragte San. »Weil wir besser arbeiten«, sagte Xu. »Wir arbeiten härter, wir trinken nicht, wir hauen nicht ab. Außerdem haben wir gelbe Haut und schräge Augen. Sie mögen keine Menschen, die nicht so aussehen wie sie selbst.«
     
    Jeden Morgen kletterten San und Guo Si, jeder mit einer Laterne in der Hand, den glitschigen Pfad aus der Schlucht hinauf. Es kam vor, dass jemand auf dem vereisten Boden ausrutschte und in die Schlucht stürzte. Zwei Männer, die sich die Beine verletzt hatten, halfen beim Zubereiten des Essens, das die Brüder bekamen, wenn sie nach den langen Arbeitstagen zurückkehrten. Die Chinesen und die Bewohner der anderen Talseite arbeiteten weit voneinander entfernt und stiegen auf getrennten Wegen aus der Schlucht nach oben. Der Vorarbeiter passte ständig auf, dass sie sich nicht zu nahe kamen.
     
    Manchmal kam es mitten im Bach zur Schlägerei zwischen Chinesen, die mit Knüppeln bewaffnet waren, und Iren, die ihre Messer zogen. Dann kamen die bärtigen Wachen auf ihren Pferden und trieben sie auseinander. Manchmal wurde jemand so schwer verletzt, dass er starb. Ein Chinese, der einem Iren den Schädel gespalten hatte, wurde erschossen, ein Ire, der einen Chinesen erstochen hatte, wurde in Ketten abgeführt. Xu ermahnte alle Bewohner des Zelts, sich von den Schlägereien und Steinwürfen fernzuhalten. Er erinnerte sie ständig daran, dass sie vorläufig noch Gäste in diesem Land waren. »Wir müssen warten«, sagte Xu. »Eines Tages werden sie begreifen, dass es keine Eisenbahn geben wird, wenn wir Chinesen sie nicht fertig bauen. Eines Tages wird sich alles ändern.«
     
    Später am Abend, als sie im Zelt lagen, fragte Guo Si flüsternd, was Xu eigentlich gemeint habe. Aber San wusste keine gute Antwort.
     
    Sie waren von der Küste aus in die dürre Landschaft gefahren, wo die Sonne immer kälter wurde. Wenn sie von Xu lautstark geweckt wurden, mussten sie sich beeilen, weil sonst die mächtigen Vorarbeiter wütend wurden und sie zwangen, länger als die üblichen zwölf Stunden zu arbeiten. Die Kälte war beißend. Fast jeden Tag fiel Schnee. Von Zeit zu Zeit sahen sie den gefürchteten Wang, der sie sein Eigentum genannt hatte.
     
    Die Brüder bereiteten den Bahndamm vor, der die feste Unterlage für die Schienen bilden sollte. Überall brannten Feuer, die ihnen bei der Arbeit Licht gaben, die aber auch den gefrorenen Boden erwärmten. Die ganze Zeit wurden sie von den berittenen Vorarbeitern bewacht, weißen Männern mit Gewehren, in Wolfspelzen und mit Schals, die um die Hüte gebunden waren, um die Kälte abzuhalten. Xu hatte sie gelehrt, immer mit »Yes Boss« zu antworten, wenn sie angesprochen wurden, auch wenn sie nicht verstanden, was gesagt wurde.
     
    Die Feuer leuchteten mehrere Kilometer weit. Dort waren die Iren mit dem Verlegen von Schwellen und Schienen beschäftigt. Manchmal konnten sie das Pfeifen von Lokomotiven hören, die Dampf abließen. San und Guo Si hielten diese riesenhaften schwarzen Zugtiere für Drachen. Obwohl die feuerspeienden Monster, von denen ihre Mutter erzählt hatte, bunt gewesen waren, hatte sie doch sicher diese blinkenden Untiere gemeint.
     
    Die Schufterei war unvorstellbar. Wenn die langen Tage vorbei waren, hatten sie kaum noch Kraft, sich hinunter in die Schlucht zu schleppen, zu essen und sich dann im Zelt fallen zu lassen. Solange es ging, versuchte San, Guo Si zu zwingen, sich in dem kalten Wasser zu waschen. San ekelte sich vor seinem eigenen Körper, wenn er schmutzig war. Zu seiner Verwunderung war er fast immer allein unten an dem kalten Wasser, halbnackt und fröstelnd. Die Einzigen außer ihm, die sich wuschen, waren die Neuankömmlinge. Der Wille, sich sauber zu halten, ließ während der schweren Arbeit nach. Schließlich kam der Tag, an dem auch er sich ungewaschen schlafen legte. Er lag im Zelt und nahm den Gestank ihrer Körper wahr. Es kam ihm vor, als verwandelte er sich selbst mehr und mehr in ein Geschöpf ohne Würde, ohne Träume oder Sehnsucht. Im Halbschlaf konnte er seine Mutter und seinen Vater sehen und daran denken, dass er nur eine heimische gegen eine fremde Hölle eingetauscht hatte. Sie mussten schuften wie die Sklaven, schlimmer, als es ihre Eltern je erlebt hatten. War es das, was sie sich erhofft hatten, als sie sich auf den Weg nach Kanton gemacht hatten? Gab es keinen Ausweg für den

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