Der Chinese
Ähnlichkeit mit ihm hatten. Obwohl ein Meer dazwischen lag, hätten sie Brüder sein können. Sie hatten die gleiche Gesichtsform, die gleichen schrägen Augen. Aber was sie dachten, wusste er nicht.
Eines Abends fragte er Brown danach, der ein wenig Chinesisch sprach. »Die Indianer hassen uns«, sagte Brown. »Ebenso wie ihr. Das ist die einzige Ähnlichkeit, die ich sehen kann.«
»Trotzdem sind sie es, die uns bewachen.«
»Wir geben ihnen zu essen. Geben ihnen Gewehre. Wir lassen sie eine Stufe über euch stehen. Und noch eine Stufe über den Negern. Sie glauben, sie hätten Macht. Aber sie sind Sklaven wie alle anderen auch.«
»Alle?« Brown schüttelte den Kopf. Auf die letzte Frage erhielt San keine Antwort.
Sie saßen im Dunkeln. Dann und wann glomm die Glut in ihren Pfeifen und beleuchtete ihre Gesichter. Brown hatte San eine von seinen alten Pfeifen gegeben und ihm auch Tabak geschenkt. San war auf der Hut. Er wusste immer noch nicht, was Brown im Gegenzug von ihm wollte. Vielleicht wollte er nur Gesellschaft, wollte die große Einsamkeit der Wüste durchbrechen, nachdem er nicht einmal mehr den Vorarbeiter als Gesprächspartner hatte.
Schließlich wagte San, nach JA zu fragen.
Wer war dieser Mann, der nicht aufgegeben hatte, bis er sie nach ihrer Flucht aufgespürt und ihnen das Gehör zerstört hatte? Wer war dieser Mann, dem es Freude machte, Menschen zu quälen?
»Was ich gehört habe, habe ich gehört«, sagte Brown und biss auf sein Pfeifenmundstück. »Ob es wahr ist oder nicht, kann ich nicht sagen. Aber er tauchte eines Tages bei den reichen Leuten in San Francisco auf, die Geld in diese Eisenbahn investiert hatten. Sie stellten ihn als Wächter an. Er jagte Flüchtlinge und war klug genug, Hunde und Indianer zu benutzen. Deshalb wurde er Vorarbeiter. Aber manchmal, so wie bei euch, geht er wieder selbst auf die Jagd. Man sagt, er habe noch jeden wieder eingefangen, außer denen, die dort draußen in der Wüste umgekommen sind. Denen hat er die Hände abgehauen und den Skalp abgeschnitten, wie es die Indianer tun, um zu beweisen, dass er sie aufgespürt hatte. Viele halten seine Fähigkeit für übernatürlich. Die Indianer glauben, er könne im Dunkeln sehen. Deshalb nennen sie ihn ›Langer Bart, der in der Nacht sieht‹.« San dachte lange darüber nach, was Brown gesagt hatte. »Er spricht nicht so wie du. Seine Sprache klingt anders. Woher kommt er?«
»Ich weiß es nicht genau. Irgendwoher in Europa. Aus einem Land weit im Norden, wie jemand erzählt hat. Es könnte Schweden sein, aber ich bin nicht sicher.«
»Sagt er selber nichts?«
»Niemals. Das mit einem Land weit im Norden kann falsch sein.«
»Ist er Engländer?«
Brown schüttelte den Kopf. »Der Mann kommt aus der Hölle. Dorthin wird er wohl auch zurückkehren.«
San wollte weitere Fragen stellen. Aber Brown murrte. »Nichts mehr von ihm. Er kommt bald zurück. Sein Fieber lässt nach, und das Wasser läuft nicht mehr einfach durch ihn hindurch. Wenn er wieder da ist, kann ich nichts mehr dagegen tun, dass ihr in den Körben mit dem Tod tanzen müsst.« Ein paar Tage später kam JA zurück. Er war bleicher und magerer, aber gleichzeitig noch brutaler. Gleich am ersten Tag schlug er zwei Chinesen, die zusammen mit San und Guo Si arbeiteten, bewusstlos, nur weil sie ihn nicht höflich genug gegrüßt hätten, als er auf seinem Pferd ankam. Er war nicht zufrieden mit dem Fortschritt der Arbeit während seiner Krankheit. Brown wurde gescholten, und JA brüllte, ab sofort verlange er mehr Einsatz von allen, die am Berg arbeiteten. Wer seinen Befehlen nicht gehorchte, sollte ohne Essen und Wasser in die Wüste gejagt werden.
Am Tag nach seiner Rückkehr schickte JA die Brüder wieder in die Körbe. Von Brown konnten sie keine Unterstützung mehr erwarten.
Sie brachen sich tiefer hinein in das Gebirge, sprengten und hackten, schleppten Steine und stampften den Sand fest, auf dem die Schienen verlegt werden sollten. Mit unendlicher Mühe besiegten sie den Berg, Meter für Meter. In der Ferne konnten sie den Rauch der Lokomotive sehen, die Schienen und Schwellen und Mannschaften anlieferte. Bald würde sie am Berg angekommen sein. Es war, als ob sie ein schnaubendes Raubtier im Nacken hätten, wie San zu Guo Si sagte. Aber die Brüder sprachen nicht darüber, wie lange sie noch die Kraft haben würden, in die Todeskörbe zu steigen. Der Tod kam, wenn man von ihm
Weitere Kostenlose Bücher