Der Chinese
gegangen waren. Aber einige Monate vor der Freilassung erfuhr San, dass ein weißer Mann namens Samuel Acheson eine Wagenkolonne nach Osten führen wollte. Er brauchte jemanden, der ihm das Essen machte und seine Wäsche wusch, und er versprach, dafür zu bezahlen. Er hatte beim Goldwaschen am Yukon River ein Vermögen gemacht. Jetzt wollte er quer über den Kontinent, um seine Schwester in New York zu besuchen, seine einzige Verwandte. Acheson war bereit, San und Guo Si mitzunehmen. Sie sollten es nicht bereuen, ihn zu begleiten. Samuel Acheson behandelte Menschen anständig, ungeachtet ihrer Hautfarbe.
Den Kontinent zu überqueren, die unendlichen Ebenen, die Gebirge, das dauerte länger, als San vorhergesehen hatte. Zweimal wurde Acheson krank und musste mehrere Monate liegen. Er schien nicht an körperlichen Gebrechen zu leiden, es war sein Gemüt. Es verdüsterte sich so sehr, dass er sich in sein Zelt verkroch und sich erst wieder zeigte, wenn die schwere Mutlosigkeit vorüber war. Zweimal am Tag stellte ihm San Essen ins Zelt und sah ihn dort auf seiner Pritsche liegen, das Gesicht von der Welt abgewandt.
Aber beide Male wurde er wieder gesund, die Schwermut verließ ihn, und sie konnten ihre lange Reise fortsetzen. Obwohl sie die Möglichkeit gehabt hätten, mit der Eisenbahn zu fahren, gab Acheson den trägen Ochsen und unbequemen Wagen den Vorzug.
Auf der großen Prärie sah San abends oft zu dem unendlichen Sternenhimmel auf. Er suchte seinen Vater und seine Mutter und Wu, konnte sie aber nicht finden.
Sie kamen nach New York, Acheson fand seine Schwester wieder, die Brüder bekamen ihren Lohn und hielten nach einem Schiff Ausschau, das sie mit nach England nehmen konnte. San wusste, dass von New York aus keine Schiffe direkt nach Kanton oder Shanghai fuhren. Schließlich fanden sie Decksplätze auf einem Schiff nach Liverpool.
Es war im März 1867. An dem Morgen, als sie New York verließen, war der Hafen in dichten Nebel gehüllt. Hier und da dröhnte ein Nebelhorn durch den Dunst.
San und Guo Si standen an der Reling. »Wir sind auf dem Weg nach Hause«, sagte Guo Si.
»Ja«, antwortete San. »Jetzt sind wir auf dem Weg nach Hause.«
In einem verknoteten Tuch, in dem er seine wenigen HabSeligkeiten aufbewahrte, befand sich auch der Daumen Lius, eingewickelt in ein Stück Baumwolle. Einen einzigen Auftrag brachte er aus Amerika mit. Den gedachte er zu erfüllen. Oft träumte San von JA. Auch wenn die Brüder den Berg hinter sich gelassen hatten, war JA noch in ihrem Leben. Und San wusste, dass er immer da sein würde, was auch geschah. Immer.
Die Feder und der Stein
Am 5. Juli 1867 verließen die beiden Brüder Liverpool auf einem Schiff mit dem Namen Nellie.
San entdeckte bald, dass er und Guo Si die einzigen Chinesen an Bord waren. Sie hatten ihre Schlafplätze auf dem alten Schiff, das nach Fäulnis roch, ganz vorn im Bug angewiesen bekommen. Auf der Nellie gab es die gleichen abgegrenzten Hoheitsgebiete wie in Kanton. Man segelte zum selben Ziel, betrat aber nicht den Boden des anderen.
Noch während das Schiff im Hafen lag, hatte San zwei Passagiere mit blonden Haaren bemerkt, die von Zeit zu Zeit an der Reling auf die Knie fielen und beteten. Sie schienen ganz unbeeindruckt von allem, was um sie herum vorging, von den Seeleuten, die arbeiteten, dem Steuermann, der sie antrieb und seine Befehle brüllte. Die beiden Männer waren in ihr Gebet vertieft, bis sie sich still wieder erhoben. Plötzlich wandten sich die beiden Männer zu San und verbeugten sich. San zuckte zusammen, als hätten sie ihm gedroht. Noch nie hatte sich ein weißer Mann vor ihm verbeugt. Weiße verbeugten sich nicht vor Chinesen. Sie traten nach ihnen. Er zog sich schnell dorthin zurück, wo er mit Guo Si seinen Schlafplatz hatte, und überlegte, wer diese Männer sein könnten.
Er fand keine Antwort. Das Verhalten der beiden Männer war ihm unbegreiflich.
Eines späten Nachmittags wurden die Leinen losgeworfen, das Schiff wurde aus dem Hafen geschleppt, und man hisste die Segel. Es blies eine frische nördliche Brise. Mit guter Fahrt nahm das Schiff Kurs nach Osten.
San hielt sich an der Reling fest und ließ sich den kühlen Wind ins Gesicht blasen. Die Brüder waren auf ihrer Reise um die Welt nun endlich auf dem Weg nach Hause. Jetzt durften sie unterwegs nur nicht krank werden. Was geschehen würde, wenn sie wieder in China waren, wusste San nicht. Aber
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