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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Angst gehabt hatte. Guo Si wurde krank. Eines Morgens wachte er mit heftigen Magenschmerzen auf. Er lief aus dem Zelt und konnte sich gerade noch die Hosen herunterziehen, ehe es aus ihm herausspritzte.
     
    Da seine Arbeitskollegen fürchteten, sie würden sich an der Magenkrankheit anstecken, ließ man ihn in einem kleinen Zelt allein. San kam und brachte ihm Wasser, ein alter Neger namens Hoss benetzte ihm die Stirn und wischte den wässrigen Kot auf, der aus seinem Körper rann. Hoss hatte sich schon so lange bei den Kranken aufgehalten, dass ihm anscheinend nichts mehr etwas anhaben konnte. Er hatte nur noch einen Arm, seit er fast von einem Felsblock zerschmettert worden wäre. Mit der einen Hand, die ihm geblieben war, befeuchtete er Guo Sis Stirn und wartete darauf, dass er sterben würde.
     
    Plötzlich stand der gefürchtete Vorarbeiter in der Zeltöffnung. Angewidert betrachtete er den Mann, der dort in seinen Exkrementen lag. »Willst du nun sterben oder nicht?« fragte er.
     
    Guo Si versuchte sich aufzurichten, hatte aber nicht die Kraft. »Ich brauche das Zelt«, fuhr JA fort. »Warum nehmen sich Chinesen immer so viel Zeit zum Sterben?« Am Abend erzählte Hoss, was der Vorarbeiter gesagt hatte. Er stand mit San vor dem Zelt, in dem der Kranke lag und phantasierte. Guo Si rief voller Angst, er sehe jemanden aus der Wüste auf sich zukommen. Hoss versuchte, ihn zu beruhigen. Er hatte an genügend vielen Sterbebetten gesessen, um zu wissen, dass dies eine übliche Vision derer war, die bald sterben würden. Ein Wanderer kommt aus der Wüste, um den Sterbenden zu holen. Es konnte ein Vater oder ein Gott oder ein Freund oder eine Ehefrau sein.
     
    Hoss saß bei einem Chinesen, von dem er noch nicht einmal den Namen wusste. Der Name interessierte ihn auch nicht. Wer sterben sollte, brauchte keinen Namen.
     
    San wartete verzweifelt. Die Tage wurden kürzer. Der Herbst ging. Bald würde es wieder Winter sein.
     
    Aber wie durch ein Wunder wurde Guo Si wieder gesund. Es ging sehr langsam, Hoss und San wagten es nicht zu glauben, aber eines Morgens stand Guo Si auf. Der Tod hatte sich von seinem Körper abgewendet, ohne ihn mitzunehmen. In dem Augenblick beschloss San, dass sie irgendwann wieder in China sein würden. Dort waren sie trotz allem zu Hause, nicht hier in der Wüste.
     
    Sie würden am Berg ausharren, bis sie ihren Sklavenvertrag erfüllt hatten und frei waren, um zu gehen, wohin sie wollten. Sie würden alle Qualen ertragen, denen JA und die anderen Vorarbeiter sie aussetzten. Nicht einmal Wang, der sie zu besitzen behauptete, sollte es gelingen, diesen Entschluss zunichtezumachen.
     
    Gegen Krankheiten und Arbeitsunfälle konnte San nichts tun. Trotzdem behütete er Guo Si in all diesen Jahren. Wenn der Tod ihn dieses Mal auch verschont hatte, würde er es ein zweites Mal kaum wieder tun.
     
    Sie schufteten weiter am Berg, hackten und sprengten Schluchten und Tunnel heraus. Sie sahen, wie Arbeitskameraden von dem tückischen Nitroglyzerin in Stücke gerissen wurden, sahen andere, die sich das Leben nahmen oder den Krankheiten erlagen, die immer mit den Bahnarbeitern zogen. Und stets hing der Schatten JAs wie eine bedrohliche Riesenfaust über ihnen. Eines Tages erschoss er einen Arbeiter, der ihm die Laune verdorben hatte, dann wieder zwang er die Schwachen und Kranken, die gefährlichsten Arbeiten zu verrichten, damit sie dabei umkamen.
     
    San zog sich zurück, wenn JA in der Nähe war. Sein Hass auf ihn gab ihm die Kraft zum Aushalten. Niemals würde er JA verzeihen, welche Verachtung er gezeigt hatte, als Guo Si gegen den Tod kämpfte.
     
    Das war schlimmer, als wenn er ihn ausgepeitscht hätte, schlimmer als alles, was er sich vorstellen konnte. Nach ungefähr zwei Jahren hörten Wangs Besuche auf. San schnappte das Gerücht auf, er sei beim Kartenspiel von einem Mann erschossen worden, der ihn des Betrugs beschuldigt hatte. Was wirklich geschehen war, konnte San nie herausfinden. Aber Wangs Besuche hörten auf. Nach einem weiteren halben Jahr wagte er zu glauben, dass es wirklich wahr war.
     
    Wang war tot.
     
    Schließlich kam der Tag, da ihre Zeit vorbei war und sie den Eisenbahnbau als freie Männer verlassen konnten. San hatte die wenigen Stunden, in denen er nicht arbeitete oder schlief, auf Überlegungen verwendet, wie sie nach Kanton zurückkehren könnten. Es schien das Natürlichste, wieder nach Westen zu gehen, zurück zu der Stadt und den Kais, wo sie einst an Land

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