Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
Vom Netzwerk:
erstarrten seine Muskeln, seine Hand öffnete sich und das Messer fiel heraus.
    Â»Ich werde dir nicht wehtun«, sagte der Fremde und sprach Hisaos Namen so aus, dass dieser ihm glaubte. Plötzlich tat sich ihm wieder die Welt seiner Mutter auf. Er spürte ihre Freude und ihren Schmerz und merkte, wie sich sein Blickfeld eintrübte und die Kopfschmerzen begannen.
    Â»Wer sind Sie?«, flüsterte er, denn er hatte sofort begriffen, dass es sich bei diesem Mann um jemanden handelte, den seine Mutter gekannt hatte.
    Â»Kannst du mich sehen?«, erwiderte der Mann.
    Â»Nein. Ich kann die Unsichtbarkeit weder einsetzen noch wahrnehmen.«
    Â»Aber du hast mich kommen hören?«
    Â»Nur durch die Frösche. Ich lausche ihnen. Aber ich habe nicht das scharfe Gehör des Stammes. Ich kenne keinen mehr unter den Kikuta, der diese Gabe noch besitzt.«
    Er wunderte sich, wie offen er zu diesem Fremden sprach, obwohl er doch sonst immer so zurückhaltend war.
    Der Mann wurde wieder sichtbar. Sein Gesicht war nur eine knappe Handbreit von dem Hisaos entfernt, sein Blick war konzentriert und forschend.
    Â»Vom Aussehen her erinnerst du mich an niemanden«, sagte er. »Und du besitzt keine der Gaben des Stammes?«
    Hisao nickte, dann blickte er auf das Tal.
    Â»Aber du bist Kikuta Hisao, Akios Sohn?«
    Â»Ja, und meine Mutter hieß Muto Yuki.«
    Die Miene des Mannes veränderte sich leicht und Hisao spürte, wie seine Mutter mit Bedauern und Mitleid darauf reagierte.
    Â»Das habe ich mir gedacht. In diesem Fall bin ich dein Großvater: Muto Kenji.«
    Diese Information nahm Hisao schweigend zur Kenntnis. Seine Kopfschmerzen wurden stärker. Muto Kenji war ein Verräter und bei den Kikuta fast so verhasst wie Otori Takeo, aber die Anwesenheit seiner Mutter benebelte ihn und er hörte, wie sie »Vater!« rief.
    Â»Was hast du?«, fragte Kenji.
    Â»Nichts. Ich habe nur manchmal Kopfschmerzen. Warum sind Sie gekommen? Man wird Sie töten. Ich müsste Sie töten, aber Sie behaupten ja, mein Großvater zu sein, und außerdem bin ich nicht sehr gut darin, jemanden umzubringen.« Er warf einen Blick auf seine Konstruktion. »Ich baue lieber etwas.«
    Wie seltsam , dachte der alte Mann. Er hat keine Fähigkeit geerbt, weder von seinem Vater noch von seiner Mutter . Er verspürte sowohl Erleichterung als auch Bedauern. Nach wem kommt er? Nicht nach den Kikuta oder den Muto oder den Otori. Mit seiner dunklen Haut und den breiten Gesichtszügen ähnelt er wahrscheinlich Takeos Mutter, der Frau, die an jenem Tag starb, als Shigeru Takeo das Leben rettete.
    Mitleidig betrachtete Kenji den Jungen. Er wusste, wie hart eine Kindheit beim Stamm war, besonders für die eher Unbegabten. Hisao schien nicht untalentiert zusein – diese Konstruktion war sowohl erfindungsreich als auch akkurat ausgeführt, und außerdem hatte er ein flüchtiges Flackern im Blick, das darauf hindeutete, dass er etwas sah, was jenseits der normalen Wahrnehmung lag. Aber was? Und die Kopfschmerzen – was hatten sie zu bedeuten? Er machte den Eindruck eines gesunden jungen Mannes, war ein wenig kleiner als Kenji, aber kräftig und mit fast makelloser Haut und dickem, glänzendem Haar, das dem Takeos nicht ganz unähnlich war.
    Â»Komm, wir suchen Akio«, sagte Kenji. »Ich habe ihm einiges zu sagen.«
    Er machte sich gar nicht erst die Mühe, seine Gesichtszüge zu verändern, als er dem Jungen auf dem Bergpfad hinab zum Dorf folgte. Er wusste, man würde ihn sowieso erkennen – wer sonst hätte so weit kommen und die Wachen auf dem Pass umgehen können, wer sonst hätte sich ungesehen und ungehört durch den Wald bewegen können? –, und außerdem sollte Akio ruhig von seiner Ankunft erfahren, denn schließlich kam er mit einem Waffenstillstandsangebot von Takeo.
    Nach dem Abstieg war er außer Atem, und als er am Rand der überfluteten Felder stehenblieb, um zu husten, schmeckte er das salzige Blut im Hals. Ihm war heißer als üblich, auch wenn man bedachte, dass die Luft noch warm war. Das Licht der im Westen sinkenden Sonne wurde golden. Die Dämme zwischen den Feldern waren dicht von bunten Wildblumen bedeckt, Wicken, Butterblumen und Gänseblümchen, und das Licht brach durch das frische Laub der Bäume. Die Luft war erfüllt von der Musik des Frühlings, der Vögel, Frösche und

Weitere Kostenlose Bücher